Navigation auf uzh.ch
Sie werden uns besser kennen als wir selbst, die digitalen Zwillinge, denn sie verfügen über Daten zu unserem Körper, die ständig aktualisiert werden. Diese werden gesammelt, während wir unser Leben leben, arbeiten, Sport treiben, unser Feierabendbier trinken oder zum Arzt gehen. «Die digitalen Zwillinge werden unsere Partner sein, die uns begleiten und beraten», sagt Ärztin Claudia Witt dazu. Die UZH-Professorin und Co-Direktorin der Digital Society Initiative (DSI) hat mitgearbeitet an einem Strategieprojekt der DSI zur künstlichen Intelligenz in der Medizin. Darin werden Zukunftsszenarien entwickelt, wie KI künftig in der Medizin angewendet werden könnte. Eine dieser Anwendungen ist der Einsatz von digitalen Zwillingen. Am Konzept des digitalen Zwillings lassen sich «Kernfragen der künftigen Anwendung von KI in der Medizin festmachen», schreiben die Autor:innen dazu.
Digitale Zwillinge bringen zwei Errungenschaften der Digitalisierung der Medizin zusammen: die individuelle Erhebung von Daten und die Analyse grosser Datenmengen. Beide werden für den Zwilling genutzt. Der Zwilling ist ein Computermodell in dem die individuellen Informationen einer Person etwa zu Blutdruck und Herzfrequenz kombiniert werden mit Modellen dieser Körperfunktionen. Diese basieren auf den gesammelten Daten vieler Menschen. Die Modelle bilden die zentralen Lebensfunktionen ab wie Atmung, Kreislauf, Verdauung oder Stoffwechsel. Sie dienen dazu, zu simulieren, wie unser Körper auf äussere Einflüsse wie etwa Ernährung, Bewegung oder Medikamente reagieren würde. «Je umfassender die Daten sind, umso besser können die Modelle den Menschen nachahmen», erklärt Claudia Witt. Das gilt für die Körperfunktionen allgemein und auch für die der einzelnen Menschen, für die ein digitaler Zwilling erstellt wurde.
Mit diesem Wissen kann der Zwilling Vorhersagen und Empfehlungen machen. «Wir könnten beispielsweise unser Essen fotografieren und der Zwilling rechnet die Kalorien aus und sagt uns, ob es genügend Ballaststoffe enthält», sagt Claudia Witt. Oder er stellt fest, dass wir den ganzen Tag im Büro gesessen haben, und empfiehlt uns deshalb Bewegung. Der Clou dabei ist, dass mein Zwilling weiss, welche Art von Bewegung ich mag und welche mir guttut. «Das ist der Vorteil des digitalen Zwillings gegenüber allgemeinen Gesundheitsempfehlungen zu Bewegung oder Ernährung», sagt Claudia Witt. «Der digitale Zwilling erkennt, was bei uns ganz persönlich wie wirkt, und macht uns basierend darauf Vorschläge.» Damit kann uns unser Zwilling helfen, gesünder zu leben und fitter zu werden. Das hilft, Krankheiten vorzubeugen, denn der Lebensstil beeinflusst, ob und wie sich Krankheiten wie Krebs oder Diabetes entwickeln.
Wir könnten beispielsweise unser Essen fotografieren und der Zwilling rechnet die Kalorien aus und sagt uns, ob es genügend Ballaststoffe enthält.
Bei der Prävention wird der Zwilling deshalb zum Partner des Menschen. Er ist aber auch nützlich und hilfreich, wenn es um Diagnose und Behandlung von Krankheiten geht. Weil er in Echtzeit weiss, wie es um uns steht, kann er helfen, Krankheiten früh zu erkennen. Und er verbessert die Prognose, wie eine Krankheit verlaufen könnte. Schliesslich unterstützt der Zwilling auch die Behandlung der Krankheit, indem Ärzte mit ihm simulieren können, ob und wie eine Behandlung wirkt. So wird der Zwilling gewissermassen zum Vorkoster einer Therapie. Wenn sich diese als bekömmlich erweist, wird sie eingesetzt. Wenn nicht, wird nach einer anderen Therapie gesucht.
Das klingt verheissungsvoll für die Zukunft, die im DSI-Papier skizziert wird. Denn wer möchte nicht gesünder leben und länger gesund und leistungsfähig sein? Doch wie so oft beim Einsatz neuer Technologien gibt auch bei den digitalen Zwillingen heikle Fragen. So etwa zum Datenschutz und zur Nutzung der Daten. Oder ob künftig alle einen digitalen Zwilling haben müssen, um sich medizinisch behandeln lassen zu können.
Was die Entscheidungen betrifft, so ist für Claudia Witt klar: «Der Mensch bestimmt.» Wichtig sei, dass «wir selbst darüber entscheiden können, wie unsere persönlichen Zwillinge ausgestaltet sind und wofür unsere Daten genutzt werden dürfen». Gefordert ist hier der Staat, der entsprechende Gesetze erlassen und durchsetzen muss. Das wird fundamental sein für das Vertrauen in digitale Dienstleistungen wie die Zwillinge, die aller Voraussicht nach von privaten Anbietern entwickelt und betrieben werden.
Für diese Anbieter ist es wichtig, dass sie Zugang zu möglichst vielen (anonymisierten) Gesundheitsdaten haben, um möglichst gute Modelle entwickeln zu können. Das bedeutet, dass die einzelnen Anbieter ihre Daten teilen müssen. Man darf gespannt sein, von welchen Nebengeräuschen der jeweiligen Lobbys die Diskussionen begleitet werden, wenn es darum geht, «Open Data»-Prinzipien gesetzlich zu verankern.
Die zweite Frage lautet: Werden wir in Zukunft dazu gezwungen sein, einen oder mehrere digitale Zwillinge zu haben, um beispielsweise medizinische Leistungen in Anspruch zu nehmen oder eine Krankenversicherung abzuschliessen? Im Positionspapier der DSI steht dazu: «Das Gesundheitswesen ermöglicht weiterhin auch eine Versorgung von Personen, die Digitale-Zwillings-Services nicht nutzen wollen.» Offen ist, wie gut diese Versorgung noch sein wird respektive noch sein kann. Auf jeden Fall nicht so gut wie für Personen mit digitalen Zwillingen. Ganz einfach deshalb, weil weniger aktuelle und verlässliche Informationen verfügbar sind und es viel aufwändiger ist, diese zu beschaffen, etwa für eine Krebstherapie.
Erste Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage der DSI zeigen: Fast zwei Drittel der Schweizer würden einen persönlichen digitalen Zwilling begrüssen, der ihnen hilft, gesünder zu bleiben.
Der Erfolg der digitalen Zwillinge wird einerseits davon abhängen, wie gut die Programme sind, die ihnen zugrunde liegen. Und andererseits vom Vertrauen der Nutzer:innen in die neue Technologie. Für Ersteres brauche es gute vertrauensvolle Anbieter und möglichst viele und qualitativ gute gesundheitsbezogene Daten, die anonymisiert auch öffentlich zur Verfügung stehen, sagt Claudia Witt. Für das Vertrauen brauche es griffige Gesetze und es müsse transparent sein, wie die Daten gesammelt und genutzt werden. «Und wir müssen das Wissen zu digitalen Zwillingen fördern», betont Claudia Witt, «um selbst gut informiert entscheiden zu können, was mit unseren persönlichen Daten passiert.»
Dieser Text stammt aus dem Dossier «Gesund älter werden» aus dem aktuellen UZH Magazin 3/2023