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Simona Grano, der Abschuss eines chinesischen Spionageballons über den USA kürzlich hat das Spannungsverhältnis zwischen den Vereinigten Staaten und China einmal mehr deutlich gemacht. Sie beschäftigen sich in Ihrer Forschung seit längerem mit der Rivalität der beiden Länder. Erleben wir zurzeit den Beginn eines neuen Kalten Krieges?
Ja und nein. Die Rivalität ist zwar da. Aber es gibt grundsätzliche Unterschiede zum Kalten Krieg in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Damals gab es keine wirtschaftliche Verflechtung zwischen den USA und der Sowjetunion, wie dies heute zwischen den USA und China der Fall ist. China war beispielsweise 2021 das wichtigste Importland für die USA. Auch spielt die Ideologie, der Kampf zwischen den politischen Systemen, nicht mehr eine so grosse Rolle wie in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Doch obwohl die Ideologie eine subtilere Rolle spielt als in der Vergangenheit, wird sie von beiden Supermächten häufig eingesetzt, um ein bestimmtes Narrativ zu rechtfertigen – beispielsweise «Demokratien gegen Autokratien» in den USA oder die Demonstration eines starken autoritären Regimes, das selbst grossen sozialen Krisen standzuhalten vermag, in China.
Das Buch «China-US Competition», das Sie kürzlich mit einem taiwanischen Kollegen herausgegeben haben, beschäftigt sich mit den Auswirkungen der Rivalität der beiden Grossmächte auf kleinere Staaten in Europa und Asien und deren politische Strategien – etwa die Schweiz oder Taiwan. Was haben Sie festgestellt?
Die Rivalität zwischen China und den USA überträgt sich allmählich auf Drittländer. Das ist, glaube ich, die neueste Entwicklung. Fast alle Länder in Europa und Asien, die wir untersucht haben, versuchen in einer Mittelzone zwischen den beiden Rivalen zu bleiben. Das deutet auf einen gewissen wirtschaftlichen Pragmatismus hin. Man möchte nicht klar Partei ergreifen, sondern in einzelnen Fragen entscheiden, wo man steht.
Wo steht die Schweiz?
Die Schweiz ist in der Positionierungsfrage vielleicht noch zurückhaltender als andere Länder. Sie hat eine zögerliche Haltung etwa in der Taiwan-Frage. Da hat sie sich bis jetzt nicht klar geäussert. Die Schweiz möchte China nicht stark kritisieren. Das zeigt sich auch in anderen Bereichen. Kurz nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat die Schweiz beispielsweise Sanktionen gegenüber Russland verhängt – an Sanktionen wegen Menschenrechtsverletzungen in Xinjiang hat sie sich aber bisher nicht beteiligt. Ich denke, es gibt einen konkreten Grund für diese Haltung: Wir sind umgeben von Nato-Ländern. Deshalb bestehen bei uns keine erhöhten Sicherheitsbedenken. Zudem haben wir seit 2014 ein Freihandelsabkommen mit China, das sehr wertvoll ist. Dessen Verlust würde zu erheblichen wirtschaftlichen Schäden führen. Hinzu kommt der Neutralitätsstatus der Schweiz, wo viele multilaterale Organisationen ihren Hauptsitz haben. Die Schweiz möchte eine Brückenbauerin sein und deshalb keine Partei ergreifen.
Die Neutralitätsfrage wird hierzulande immer wieder kontrovers diskutiert, neuestens im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Welche Rolle spielt die Neutralität in der Beziehung zu China? Und wie flexibel ist sie?
Die Aussenpolitik eines Landes ist der Ausdruck einer bestimmten Zeit. Wir leben in Zeiten des Wandels, einer hohen Volatilität und hoher Spannungen. Die Schweiz sollte deshalb ihr Verhalten anpassen – wenn nicht jetzt, dann in der Zukunft. Künftig sollten wir in Europa vermehrt auf das Prinzip «Frieden durch Kooperation» setzen. Meiner Meinung nach sollte nicht jedes Land seine je eigene China-Strategie verfolgen. Damit eine Strategie wirklich wirksam ist, müssen wir in Europa viel mehr zusammenarbeiten.
Was heisst das?
Die Schweiz müsste natürlich ihre Neutralität nicht aufgeben. Die Aussenministerinnen und -minister aller europäischen Länder sollten sich aber vermehrt treffen, um ihre China-Politik zu koordinieren. Dabei sollte es nicht nur um die Wirtschaft gehen. Es braucht beispielsweise auch mehr Abstimmung in der wissenschaftlichen Zusammenarbeit mit China. Man müsste ein multinationales System aufbauen, um Erfahrungen auszutauschen. Das hätte eine grosse Wirkung. Doch im Moment verfolgen die Länder in Europa noch individuelle Strategien. Deutschland und Italien etwa haben eine ganz andere China-Strategie als Grossbritannien. Das sollte sich ändern.
Würde das nicht einer Blockbildung, wie wir sie aus dem Kalten Krieg kennen, Vorschub leisten?
Ein bisschen schon – zumindest was die ideologischen Komponenten anbelangt, nicht aber wirtschaftlich. Wenn China beschliessen würde, mit Ländern, die sich untereinander absprechen, nicht mehr zu kooperieren, ginge es grosse ökonomische Risiken ein. Die Welt verändert sich, die Rivalität der Grossmächte und die damit verbundene Polarisierung nimmt zu. Wenn die Schweiz eines Tages Partei ergreifen muss, besteht kein Zweifel darüber, welche Seite sie wählen wird – diejenige, mit der sie ihre Werte teilt. Es liegt nicht mehr nur an uns, als eigenständige Nation zu entscheiden. Das sind Veränderungen, die grösser sind als wir. Deshalb glaube ich, dass sich Absprachen innerhalb von Europa künftig nicht mehr vermeiden lassen.
Sie haben die zunehmende Polarisierung angesprochen. Grosses Konfliktpotenzial hat insbesondere die Taiwan-Frage: Wie gross schätzen Sie die Gefahr eines Krieges ein?
Der Krieg in der Ukraine hat in China zu mehr Vorsicht bei der Taiwan-Frage geführt. Man hat gesehen, wie schwierig es ist, ein Land zu unterwerfen. Eine militärische Attacke Taiwans hat aber auch auf Grund der wirtschaftlichen Probleme momentan nicht die oberste Priorität. Es gibt also viele Aspekte, die es rational nicht wahrscheinlich machen, dass China versucht, Taiwan mit Gewalt zu annektieren. Aber China ist auch eine Autokratie, die bis zu einem gewissen Grad unberechenbar ist. Man muss nun beobachten, wie sich die Situation zwischen China und den USA weiterentwickelt, ebenso der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland. Welche Lehren werden die Chinesen daraus ziehen? Momentan sind sie sicher zurückhaltend. Wichtig ist aber auch, dass die restliche Welt Massnahmen ergreift. Damit Xi jeden Tag weiss, dass die Kosten für einen Angriff Taiwans zu hoch sind.
Sie haben es angetönt: Präsident Xi Jinping fährt in China einen wesentlich autokratischeren Kurs als seine Vorgänger. Wie nehmen Sie die Entwicklung der chinesischen Politik der letzten Jahre wahr?
Grano: Der autokratischere Kurs der chinesischen Regierung hat nicht allein mit der Person von Xi Jinping zu tun. Ein Kurswechsel zeichnete sich bereits 2008, vier Jahre vor Beginn seiner Amtszeit, ab. Damals fand die erste Olympiade in China statt. Sie war ein Schaufenster für die ganze Welt. In der Zeit vor der Olympiade hat die Regierung in Peking beispielsweise hart gegen Migrantinnen und Migranten durchgegriffen. Man wollte die Stadt aufräumen und für die westlichen Besucherinnen und Besucher und die Medien ein gutes Bild abgeben. Ein Jahr später hat China dann Japan punkto Wirtschaftsleistung überholt. Das hat das Land selbstbewusster gemacht. Drei Jahre später kam Xi Jinping dann an die Macht und hat eine Propagandakampagne zum so genannten China-Traum lanciert. Es ist der alte Traum Chinas, seine territoriale Integrität wiederherzustellen – inklusive Taiwan und Hongkong. Dieser Traum ist nicht neu, er wurde aber neu verpackt. Man wollte die Macht und den Respekt, den das Land in der fernen Vergangenheit einmal besass, wiederherstellen. So gesehen wurde der Kurswechsel also von zahlreichen internationalen und nationalen Faktoren beeinflusst.
Welche Rolle spielte die Kommunistische Partei bei diesem Kurswechsel?
Die Partei unter Xis Vorgängern war liberaler. Sie hat den Menschen eine gewisse Freiheit gelassen. Universitätsprofessoren haben mir erzählt, dass sie Anfang der 2000er-Jahre über alles offen sprechen konnten, auch über die Partei. Gleichzeitig war die Partei damals auch sehr korrupt und hat fast die Kontrolle über die Bevölkerung verloren. Das kritisierte Xi Jinping an seinen Vorgängern. Er sagte ihnen: «Ihr habt den Respekt der Bevölkerung verspielt. Wir müssen etwas unternehmen.» Deshalb startete er schon früh in seiner Amtszeit eine Anti-Korruptionskampagne, die ihm unter anderem auch half, seine politischen Gegner von der Macht zu verdrängen.
Der Kontrollverlust der Partei war also ein wichtiger Faktor, der zu einem autokratischeren Kurs führte?
Ja, Xi wollte sicher die Kontrolle wieder etablieren. Und er wollte eine andere Führungskultur als seine Vorgänger schaffen. Unter Deng Xiaoping wurde das Kollegialitätsprinzip an der Parteispitze eingeführt. Man wollte den Kult um einzelne Führungsfiguren wie zu Zeiten Maos vermeiden. Es sollte kein Einzelner wieder so viel Macht akkumulieren. Die Spitze sollte Entscheidungen kollegial treffen. Präsidenten und Generalsekretäre der Kommunistischen Partei Chinas wurden deshalb abwechselnd von zwei einflussreichen Fraktionen – der China Youth League und der Shanghai-Fraktion – gestellt. Als Xi die Macht übernahm, hat er diese Fraktionen zur Seite geschoben und eine eigene Fraktion von Loyalisten etabliert.
Wie wirkte sich das Widererstarken der Partei auf die Gesellschaft aus?
Bis 2017/18 war Xi beispielsweise bei Jugendlichen ziemlich beliebt. Viele Chinesinnen und Chinesen waren stolz, dass ihr Land wieder gross und mächtig ist. Das ist heute nicht mehr der Fall. In den drei Jahren der Corona-Pandemie stand China unter Schock. Zuvor konnte sich niemand vorstellen, dass sich der Staat so restriktiv den eigenen Bürgern gegenüber verhalten würde. Seit der Corona-Pandemie ist die Stimmung in China gekippt. Eltern sehen die Zukunft ihrer Kinder vor allem im Ausland, wenn es um deren Karriere geht. Das Vertrauen in das Regime hat stark gelitten.
Chinas Wirtschaft stagniert wie schon lange nicht mehr. Hat das neben der Corona-Pandemie auch mit einer zunehmenden Re-Ideologisierung zu tun?
Grano: Corona ist sicher ein wichtiger Faktor für die wirtschaftliche Stagnation. Die Partei hat in der Vergangenheit aber auch einige Fehleinschätzungen gemacht. So hat sich der Staat immer mehr nach rechts in Richtung Nationalismus entwickelt, in der Wirtschaft hat man sich immer weiter von einer liberalen Marktwirtschaft entfernt, die Deng einführen wollte. 2020/21 hat Xi beispielsweise wirtschaftlich hart durchgegriffen und die boomende Handels- und Kommunikationsplattform Alibaba des Unternehmers Jack Ma in die Schranken gewiesen. Die Argumentation war, man wolle keine wirtschaftliche Machtkonzentration. Schlussendlich ging es aber vor allem darum, einen Kontrollverlust der Partei zu verhindern. Und nicht zuletzt ging es auch um einen persönlichen Machtkampf. Jack Ma verstand sich als so mächtig und wichtig, dass er sich über die Partei stellte. Das konnte Xi natürlich nicht zulassen.
Wie steht es heute um den politischen Kurs der chinesischen Regierung?
Grano: In den letzten Monaten sah sich die chinesische Regierung mit einer Reihe von Krisen konfrontiert, die sie zu schwächen schienen. Letzten November gingen die chinesischen Bürgerinnen und Bürger nach drei Jahren gross angelegter Abriegelungen, Schliessungen, Quarantänen und fast ständiger Massentests auf die Strasse und stellten zum ersten Mal die Führung von Präsident Xi Jinping in Frage. Nach einer Phase, in der vor allem die Wirtschaftspolitik zunehmend ideologisiert wurde, hat die Partei nun allerdings realisiert, dass die wirtschaftliche Katastrophe, an der sie mitschuldig ist, so gross ist, dass sie etwas unternehmen muss. Ende 2022 ist das Wirtschaftswachstum – lange Zeit eine tragende Säule des kommunistischen Regimes – auf den niedrigsten Stand seit Jahren gefallen. Ich glaube, es wurde der Parteispitze bewusst, dass sie den Markt wieder öffnen muss.
Kommen wir zum Schluss nochmals auf die Rivalität zwischen den USA und China zurück: Welche Entwicklungsszenarien sehen Sie für die Zukunft?
Grano: Taiwan wird sicher eines der wichtigsten Themen bleiben. In dieser Beziehung sollte die Tonalität in den beiden Ländern etwas heruntergefahren werden. Die USA beispielsweise sollte auf Provokationen verzichten. Wenn es den Vereinigten Staaten gelingt, die Beziehung zu China zu stabilisieren, wäre das zum Vorteil aller Beteiligten, nicht zuletzt auch zum Vorteil Taiwans. Ich denke, die beiden Regierungen haben das begriffen. Die Frage ist, wie es etwa bei einem Regierungswechsel in den USA und in Taiwan 2024 weitergeht.
Wie wird sich das Verhältnis der Schweiz zu China künftig weiterentwickeln?
Die Schweiz wird ihren Balanceakt weiterführen und eine Positionierung vermeiden. Im Parlament und in der Gesellschaft werden aber wohl die Stimmen lauter werden, die sich für Taiwan und für mehr Unabhängigkeit gegenüber China aussprechen. Darauf wird der Bundesrat reagieren müssen.