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Charles Darwin kennen alle, Alexander von Humboldt die meisten. Aber Johann Jakob von Tschudi? Der gebürtige Glarner (1818 – 1889) und UZH Alumnus war ein Zeitgenosse von Darwin und wie der Begründer der Evolutionstheorie ein grosser Südamerikareisender. Als Sammler für Museen unternahm er Expeditionsreisen in die Anden, gleichzeitig verfasste er Standardwerke zur Ketschuasprache und übersetzte Dramen aus dem alten Peru.
In offizieller Mission der Schweiz vermittelte er auf seiner letzten Reise in Brasilien zwischen Auswanderern und dem Kaiser. «Er ist der erste Schweizer Lateinamerikanist und steht in der Tradition der grossen Universalgelehrten», sagt Jens Andermann, Professor für iberoromanistische Literaturwissenschaft, der das Lateinamerika-Zentrums der UZH (LZZ) initiiert hat. «Zugleich verpflichten Tschudis kolonialer Blick und seine Rechtfertigung der Sklaverei uns auch zu einem kritischen Umgang mit seinem Erbe», sagt Andermann, der das LZZ zusammen mit der Politologin Yanina Welp zurzeit leitet.
Es ist das Verdienst des im Oktober 2016 gegründeten Kompetenzzentrums, dass dieser in weiten Kreisen unbekannte Gelehrte wieder zu öffentlichen Ehren kommt. Mit den jährlich wiederkehrenden Tschudi-Lectures gedenkt das noch junge Zentrum des Glarner Universalgelehrten, der eine ganzheitliche Sicht auf den Kontinent hatte und Leute aus verschiedenen Bereichen zusammenbrachte. «Er repräsentiert unser interdisziplinäres Interesse an Lateinamerika», sagt Johannes Kabatek, Professor für romanische Philologie, der seit März das Direktorium verstärkt.
Die neu installierte Tschudi-Vorlesung, die anfang März 2017 erstmals mit einem Vortrag des paraguayischen Ethnologen und Kunstwissenschaftlers Ticio Escobar zur Aktualität indigener Kunst über die Bühne ging, ist eine wichtige, aber längst nicht die einzige Veranstaltung, mit der das LZZ auf sich aufmerksam gemacht hat. Unter Andermanns und Welps Leitung hat das LZZ bereits eine beeindruckende Zahl von Veranstaltungen durchgeführt. Sie richten sich zum einen an Kolleginnen und Kollegen, die in ihren Arbeiten verschiedene Aspekte Lateinamerikas erforschen.
Sichtbar wurde dies zum Beispiel am ersten Research-Slam, der es den Teilnehmenden erlaubte, ihre Arbeiten kurz und knapp auf unterhalten Weise vorzustellen. Der nächste Slam steht bereits vor der Tür und wird am 9. Mai stattfinden. Oder im geplanten Symposium «Bioescritas/Biopoéticas» vom 28. April, an dem sich Forschende aus Brasilien, den Niederlanden und der Schweiz mit zeitgenössischer brasilianischer Lyrik und Performance-Kunst auseinandersetzen werden.
Zum anderen hat das Zentrum mehrere Veranstaltungen über aktuelle kulturpolitische Fragen durchgeführt, die sich an ein breites Publikum richteten. Zum Beispiel zu den Folgen der Olympischen Sommerspiele von 2016 für die Metropole Rio de Janeiro. Im Cabaret Voltaire diskutierten dazu die renommierten Urbanisten Alfredo Brillembourg und Hubert Klumpner von der ETH Zürich mit dem Geographen Christopher Gaffney und der Autorin Juliana Barbassa von der UZH.
Oder zur heiklen Frage der Menschenrechte in Lateinamerika. An der von Yanina Welp moderierten Veranstaltung nahmen Fachleute aus Südamerika, der UZH und von Swisspeace teil. Wie andere Veranstaltungen bewirkte auch dieser Anlass einen Bericht auf der spanischen Kette von Swissinfo und erzeugte ein grösseres mediales Echo.
Kennzeichnend für das LZZ ist der breite Fokus über sämtliche Fakultäten hinweg. Bereits sind um die 30 Forscherinnen und Forscher aktive Mitglieder, vom Geographen über den Glaziologen bis zum Pathologen und Philologen. Dazu kommt ein weiterer Kreis von Personen, die sich mit Lateinamerika beschäftigen, unter anderem Migrantinnen und Migranten oder Journalisten. Die Mitgliedschaft steht promovierten UZH-Angehörigen offen, Forschende anderer Universitäten und sonstige Interessierte können als assoziierte Mitglieder beitreten, für Studierende gibt es zudem eine eigene Kategorie. Beinahe täglich verzeichne das LZZ Anfragen zur Mitgliedschaft.
«Wir haben einiges in Bewegung gebracht», sagt Jens Andermann mit sichtlicher Befriedigung. Zurücklehnen kann er sich allerdings nicht. Denn unterdessen hat er einen Ruf an die New York University in Manhattan erhalten, dem er nicht widerstehen mochte. Andermann steht somit eine neue Herausforderung bevor und dem LZZ die erste Bewährungsprobe.
Mit der Wahl von Johannes Kabatek ins Direktorium ist die entstehende Lücke gefüllt, die Berufung eines Nachfolgers von Jens Andermann läuft. «Wir bedauern den Weggang sehr», sagt Kabatek, «aber der Zug lässt sich nicht mehr aufhalten.» Das Lateinamerika-Zentrum ist mit voller Fahrt unterwegs.