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Zuerst die gute Nachricht. Die weltweit tickende «Bevölkerungsbombe» scheint auf dem besten Weg, entschärft zu werden. Der Begriff wurde 1968 geprägt und beherrschte während Jahrzehnten die öffentliche Diskussion mit seiner Schreckensvision einer Überbevölkerung der Erde. Die damalige Wachstumskurve der Weltbevölkerung war tatsächlich beunruhigend. Bis ins 18. Jahrhundert wuchs die Weltbevölkerung nur langsam. Das änderte sich mit der industriellen Revolution, die das Wachstum dramatisch beschleunigte. 1970 betrug die jährliche Wachstumsrate mehr als zwei Prozent. Das bedeutet, dass sich die der Weltbevölkerung innerhalb von 35 Jahren verdoppelte.
Das Jahr 1970 markierte nicht nur den Höhe-, sondern auch den Wendepunkt dieser Entwicklung. Seither sinken die jährlichen Zuwachsraten wieder. Statt exponentiell wächst die Weltbevölkerung heute nur noch linear. Laut UN-Wachstumsprognose könnte sie sich sogar bis ins Jahr 2100 bei geschätzten elf Milliarden Menschen stabilisieren.
Heute gilt im Gegensatz zur industriellen Revolution: Je besser ein Land entwickelt ist, desto weniger Kinder werden geboren. «An sich ist das eine sehr positive Entwicklung», konstatiert Ökonom Hannes Schwandt, «aber wenn man genauer hinschaut, gibt es eben auch Schattenseiten.» Der Assistenzprofessor am Institut für Volkswirtschaftslehre und am Jacobs Center for Productive Youth Development der UZH meint damit nicht nur, dass eine schrumpfende Bevölkerung unseren Sozialversicherungen wie AHV und Pensionskassen zu schaffen macht. Gemäss Schwandt reisst die sinkende Fruchtbarkeit in den entwickelten Ländern auch die sozialen Gräben zwischen Arm und Reich immer weiter auf.
Das Problem liegt darin, dass Bessersituierte weniger Kinder haben. Die Frage ist: Weshalb? «Für Ökonomen ist das eigentlich eine erstaunliche Tatsache», gibt Schwandt zu bedenken. Wer Geld hat, gönnt sich mehr Restaurantbesuche, häufigere Fernreisen, ein zweites Auto oder sogar einen Zweitwohnsitz – weshalb nicht auch mehr Kinder? Schwandts Erklärung: Kinder sind zu teuer geworden. Tatsächlich sind in den wirtschaftlich starken Ländern parallel zu den Einkommen auch die Kosten für Kinder gewaltig angestiegen, und zwar umso stärker, je besser situiert die Eltern sind. An den Lebenshaltungskosten kann das nicht liegen. Selbst wenn auf den Tellern der Kinder ab und an ein Filetstück landet, fällt dies bei Gutverdienden nur marginal ins Gewicht. Was bei ihnen zählt, sind andere Dinge, etwa dass sie wegen der Kinder die Ausbildung abbrechen oder die Karriere aufgeben müssen, nicht mehr reisen können, bei den Hobbys zurückstecken müssen – also auf vieles verzichten müssen. Deshalb bekommen sie, wenn überhaupt, ihre Kinder lieber erst später.
In den unteren Gesellschaftsschichten sieht es ganz anders aus. Wer den ganzen Tag Geschirr wäscht oder Spitalzimmer putzt, verpasst durch Kinder kaum andere verlockende Chancen. Deshalb stellt sich hier der Nachwuchs früher und zahlreicher ein. Der amerikanische Ökonom Gary Becker hat dieses Phänomen schon in den 1970er-Jahren beschrieben und unter anderem dafür den Nobelpreis erhalten.
Wenn Hannes Schwandt diese Überlegungen nun noch weiterentwickelt, werden plötzlich die tiefen sozialen Gräben sichtbar, die unseren Gesellschaften drohen. Der spärliche Nachwuchs der Bessergestellten nämlich wird – ökonomisch gesprochen – immer wertvoller, weil seine Eltern besonders viel in ihn investieren: Sie reden mit ihren Kindern, lesen ihnen vor, schicken sie in den Musikunterricht, bezahlen ihnen den Vorbereitungskurs fürs Gymnasium, den Sprachaufenthalt. Nicht von ungefähr macht in der reichen Goldküstengemeinde Zollikon beinahe jedes zweite Kind die Matura, während es im fluglärmbelasteten Höri nicht einmal jedes zwanzigste ist.
Arme, schlecht ausgebildete Eltern verfügen über weniger Ressourcen, die sie ihrem Nachwuchs mitgeben können. Deshalb sinken auch die Kosten für diese relativ vielen, relativ schlecht ausgebildeten Kinder. Sie bekommen in Zukunft noch schlechtere Jobs zu noch tieferen Löhnen, während die Top-Jobs für die wenigen Gutausgebildeten immer besser bezahlt werden. Diese Entwicklung verstärkt sich von Generation zu Generation und treibt die Spirale der Ungleichheit an.
Die Digitalisierung vertieft den sozialen Graben noch zusätzlich: Computer und Roboter ersetzen nach und nach durchschnittlich ausgebildete Menschen. Was bleibt, so Schwandt, sind Jobs für sehr gut Ausgebildete und solche für wenig Ausgebildete, die schlecht bezahlt sind. Das wiederum bedeutet, dass sich eine gute Bildung immer mehr auszahlt.
Schwandt ist allerdings nicht der Ansicht, dass wir diese Veränderungen fatalistisch hinnehmen müssen. Er präsentiert vielmehr eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie sich die Schere zwischen Arm und Reich wieder etwas schliessen liesse. So sollten die Kinder der weniger gebildeten Schichten schon ab dem Kleinkindalter besser gefördert werden, damit auch sie eine bessere Ausbildung und aussichtsreichere Perspektiven erhalten. Dafür gibt es immerhin schon gute Ansätze. Hannes Schwandt analysiert mit seinen Mitarbeitenden gerade ein Sozialprogramm in Solothurn, das Kinder aus benachteiligten Familien unterstützt.
Zweitens sollten die Kosten für Kinder für die gebildeten Schichten verringert und jener für die weniger gebildeten Schichten erhöht werden. Letzteres, indem man diesen Menschen bessere Arbeitsmarktaussichten bietet und ihnen aufzeigt, dass sich Bildung für sie lohnt. Der erwünschte Effekt wäre, dass auch sie erst nach einer Ausbildung und etwas Berufserfahrung Kinder haben. «Das sind natürlich grössere und nicht ganz einfach zu erreichende gesellschaftliche Veränderungen», räumt Schwandt ein. Ganz konkret und ziemlich leicht machbar wäre hingegen die Kostensenkung für die Kinder der Gutausgebildeten: mit Krippenplätzen, Mutterschafts- und Vaterschaftsurlauben, Sabbaticals, Teilzeitarbeit. Einrichtungen, die es Eltern ermöglichen, Erfüllung in ihrem Beruf und mit ihren Kindern zu finden.
«Es ist erstaunlich», meint Schwandt, «die Schweiz ist in vieler Hinsicht so fortschrittlich. Doch was die Unterstützung von Eltern angeht, ist kaum ein Land so rückständig wie die Eidgenossenschaft.»
Man sollte sich überlegen, findet Hannes Schwandt, wie die hohe Produktivität in unseren westlichen Ländern mit dem Kinderhaben in Einklang gebracht werden kann – statt dass Menschen wegen ihrer langen Ausbildung vielleicht viel zu spät Kinder bekommen und immer mehr In-vitro-Behandlungen nötig werden. «Ich kenne einige Beispiele von älteren Freunden und Bekannten, bei denen das Kinderkriegen eine unheimliche Belastung wurde», sagt der Assistenzprofessor. «Und warum? Weil diese Leute extrem gut ausgebildet sind und gute Jobs übernehmen. Sie machen genau das, was wir als Gesellschaft wollen – und geraten dann in die Bredouille, wenn sie Kinder möchten.»