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Nadja Kempter sitzt auf dem Pausenhof einer Mittelschule in der kambodschanischen Hauptstadt Phnom Penh und beobachtet das Geschehen. Die UZH-Ethnologiestudentin ist eine der Teilnehmerinnen der Summer School «Southeast Asia in Motion». Es ist die zweite Woche der Summer School, praktische Feldforschung ist angesagt. Die Studierendengruppe von Nadja Kempter hat sich die Forschungsfrage gestellt: Welche Regeln gelten an dieser Mittelschule für die Schüler – von der obligatorischen Schuluniform bis zum Verbot, Abfall auf den Boden zu werfen? Wie werden diese Regeln kommuniziert und kontrolliert?
Mit teilnehmender Beobachtung und Interviews machen sich die Studierenden ans Werk. Aufschlussreich ist für sie etwa der Blick ins Büro des Vizerektors der Schule – im Raum stehen zahlreiche Bildschirme, auf denen die Bilder der neu installierten Überwachungskameras an der Schule zu sehen sind.
Die Vorbereitung auf die Summer School war für Nadja Kempter intensiv: Ein Jahr lang lernte sie in einem Kurs an der UZH die kambodschanische Sprache «Khmer», zudem besuchte sie das vorbereitende Seminar von Annuska Derks. Derks ist Assistenzprofessorin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEK) der Universität Zürich und hat den Lehrstuhl «Soziale Transformationsprozesse» inne. Sie war gemeinsam mit Oberassistentin Olivia Killias Initiantin der zweiwöchigen Summer School, die im Juli an der Royal University in Phnom Penh stattfand. Rund 50 Studierende und Dozierende von Universitäten in Kambodscha, Vietnam, Indonesien und Myanmar sowie der UZH nahmen daran teil (vgl. Kasten).
Dass Dozierende und Studierende aus mehreren südostasiatischen Ländern an der Summer School teilnahmen, ist keine Selbstverständlichkeit. «Der internationale wissenschaftliche Austausch ist immer noch stark von der früheren kolonialen Vergangenheit geprägt», sagt Derks. So werde ein junger Forscher aus Jakarta vielleicht an die Universität in den Niederlanden eingeladen, eine kambodschanische Wissenschaftlerin aber eher an eine Hochschule in Paris. Solche kolonialen Verflechtungsgeschichten behinderten den Dialog zwischen Forschenden aus der südostasiatischen Region: «Die meisten südostasiatischen Forschenden waren anlässlich unserer Summer School zum ersten Mal in Kambodscha, obwohl das Land nur wenige Flugstunden entfernt liegt.»
Im Zentrum der Summer School standen folgende Fragen: Wie hat sich das Verständnis von «Entwicklung» in Vietnam, Kambodscha, Indonesien und Myanmar in den letzten Jahrzehnten verändert? Wie widerspiegeln sich die gesellschaftlichen Veränderungen in Südostasien im Alltag der Menschen?
Die Länder in Südostasien sind politisch, kulturell und religiös sehr divers und haben sich während den letzten Jahrzehnten in unterschiedlichen Ausprägungen und Geschwindigkeiten in die globale Marktwirtschaft integriert. Südostasien gehört heute zu den wirtschaftlich am schnellsten wachsenden Regionen der Welt. Mit dem Wirtschaftswachstum ist auch die Lebensqualität und Lebenserwartung gestiegen. «Die Entwicklung findet allerdings nicht linear statt. Es gibt zunehmend soziale und ökonomische Ungleichheiten und unerwünschte Auswirkungen wie etwa eine starke Umweltverschmutzung», sagt Derks.
Sie und ihr Team untersuchen die gesellschaftlichen Transformationen anhand einer Vielfalt von Themenbereichen – von Gender und Migration über globale Warenketten bis zur Verwendung neuer Technologien. In einem aktuellen Forschungsprojekt geht es um die sich wandelnde Bedeutung von Alltagsobjekten. Annuska Derks untersucht dies anhand der in Vietnam seit Jahrzehnten verwendeten Kohlebriketts, die als Brennstoff in der Küche dienen. «Wie wird die Kohle heute produziert, transportiert und im Haushalt genutzt? Daran lässt sich viel ablesen, etwa über die wirtschaftliche Entwicklung, das Umweltbewusstsein oder das Verhältnis der Geschlechter», so Derks.
In einem anderen ihrer Forschungsprojekte geht es um Sternanis. Das Gewürz wird insbesondere in gewissen Gebieten Vietnams und Chinas angebaut und ist in Küche wie Medizin beliebt. Neben dieser traditionellen Bedeutung ist Sternanis neuerdings auch einer der Inhaltsstoffe, aus denen das Grippemittel Tamiflu hergestellt wird. «Das Gewürz ist auf dem Weltmarkt mit all seinen Turbulenzen angekommen und eignet sich deshalb gut für unsere Forschung, die auch Zusammenhänge zwischen Alltagswelt und Globalisierung sichtbar machen will», so Derks.
Auch an den Universitäten in Südostasien beschäftigten sich die Forschenden mit den erwünschten wie unerwünschten Auswirkungen der rasanten Entwicklung in ihren Ländern. Die erste Woche der Summer School war der Diskussion des Begriffs «Entwicklung» gewidmet: Was bedeutet Entwicklung in Zeiten neoliberaler Globalisierung? Was bedeutet modern? «Das Zusammenbringen von Forschenden aus unterschiedlichen Ländern Südostasiens brachte sehr fruchtbare Einsichten mit sich. Die einzelnen Staaten haben nämlich sehr unterschiedliche Entwicklungspolitiken hinter sich – von der Politik des früheren anti-kommunistischen indonesischen Präsidenten Suharto bis zur sozialistischen Planwirtschaft in Vietnam», so Derks.
In der zweiten Woche übten sich die 36 Studierenden in ethnographischen Forschungsmethoden. Während die Gruppe mit Nadja Kempter die Regeln einer Mittelschule untersuchte, widmeten sich andere Studierende einem Markt, einer NGO, einer neu erbauten urbanen Siedlung und einem Dorf ausserhalb von Phnom Penh.
Für Nadja Kempter war es die erste Reise nach Kambodscha. «Die Summer School war eine gute Gelegenheit, Einblick in das Land zu erhalten und Kontakte zu anderen Universitäten zu knüpfen», sagt sie. Sie hat zudem beschlossen, ihre Masterarbeit dem Bildungswesen in Kambodscha zu widmen. Die Summer School von Annuska Derks soll künftig alle zwei Jahre abwechselnd in einem der südostasiatischen Länder stattfinden.