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Genozid, Krieg und Folter durch das Gewaltregime der Roten Khmer haben in der kambodschanischen Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Rund 1,5 Millionen Menschen fanden den Tod, und gemäss Studien leiden mehr als die Hälfte der Überlebenden unter posttraumatischen Belastungsstörungen.
Seit 2009 werden an einem Sondertribunal (Extraordinary Chambers in the Court of Cambodia) in der Hauptstadt Phnom Penh einige der Anführer der damaligen Gräueltaten zur Rechenschaft gezogen. Das kambodschanische Gericht mit UN-Beteiligung setzt sich aus kambodschanischen und ausländischen Richtern zusammen.
Faires Verfahren garantieren
Kambodschanische und internationale Monitors beobachten die Verhandlungen und untersuchen, ob die Rechtsprechung internationalen Standards bezüglich fairer Verfahren genügt. Mehrere Studierende und Doktorierende des Lehrstuhls von Rechtsprofessorin Christine Kaufmann (Kompetenzzentrum Menschenrechte der UZH) beteiligten sich von 2009 bis 2012 am Monitoring-Programm.
Zeugenaussagen sind ein wichtiger Teil der Beweiserhebung in Völkerstrafrechtsprozessen. Die nochmalige Konfrontation mit der schmerzlichen Vergangenheit kann für die Zeugen allerdings sehr belastend sein, gerade wenn schon eine posttraumatische Belastungsstörung vorliegt. Die Zeugen werden deshalb von einer Beratungsstelle am Gerichtshof psychologisch betreut.
Belastend können die Erzählungen aber auch für die Monitors und alle anderen am Gerichtsverfahren beteiligten Personen sein. Hier besteht die Gefahr einer so genannten Sekundärtraumatisierung. Besonders herausfordernd ist dies wegen der langen Arbeitszeiten, wie sie in intensiven Verhandlungsphasen am Gericht häufig vorkommen – und wegen der geographisch bedingten Distanz zu Familie und Freunden.
So entstand bei Christine Kaufmann, Initiantin des Monitoringprogramms, die Idee, Psychologinnen und Psychologen ins Projekt einzubeziehen. UZH-Psychologieprofessorin Ulrike Ehlert sagte sofort zu und bezog zusätzlich Julia Müller, Oberassistentin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des Universitätsspitals Zürich, mit ein. Mit Rechtsprofessorin Brigitte Tag, Leiterin des UZH-Kompetenzzentrums Medizin, Ethik, Recht Helvetiae (MERH), erhielt das Team zudem Unterstützung im straf- und medizinrechtlichen Bereich.
Das interdisziplinäre Projekt ging der bislang wissenschaftlich nicht hinreichend geklärten Frage nach, wie sich in Völkerstrafrechtsprozessen Traumatisierungen auf die Glaubwürdigkeit von Zeugenaussagen auswirken. In einem ersten Teil untersuchte das Team den Umgang der Richterinnen und Richter mit traumatisierten Zeugen. Dazu führten die Forschenden unter anderem Interviews mit Gerichtsmitarbeitenden und werteten Transkripte der Zeugenbefragungen aus.
Die Resultate zeigen, dass die Zeugen unterschiedlich antworten, je nachdem, von wem sie befragt werden. So äusserten sie etwa mehr Gefühle, wenn sie von internationalen Angehörigen des Gerichts befragt wurden – im Vergleich zu Befragungen durch kambodschanische Richter und Anwälte.
Schweigen vor Scham
Gemeinsam mit weiteren Fachpersonen (vgl. Kasten) entwickelten die Psychologinnen zudem ein Training für juristische Fachpersonen. Es vermittelt psychologische Fachkenntnisse im Zusammenhang mit Gerichtsverfahren und zeigt auf, wie mit gehörten Traumaschilderungen umgegangen werden kann, ohne selbst traumatisiert zu werden.
So lernten die Monitors etwa, dass Menschen, die unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden, während der Befragung das Trauma vor ihrem inneren Auge häufig nochmals durchleben. Diese erneute Belastung kann zu Erzählabbrüchen und Widersprüchen im Erzählverhalten führen.
Insbesondere Opfer von sexueller Gewalt verschweigen zudem vor Gericht aufgrund von Schamgefühlen oft ihre schlimmsten Erfahrungen. Die Psychologen besprachen mit den Juristen und Monitors auch Wege, ihre Erfahrungen mit traumatisierten Zeugen verarbeiten zu können: «Wichtig ist, belastende Erlebnisse zu verbalisieren und regelmässig im Team zu besprechen», sagt Julia Müller, die die Trainings mitgeleitet hat.
Zwischen Trauma und Schuld
Die Zusammenarbeit zwischen Psychologie und Rechtswissenschaft erwies sich als herausfordernd, aber wichtig, so das Fazit von Christine Kaufmann: «Die Psychologie fokussiert auf das Individuum und seine traumatischen Erfahrungen, die Rechtswissenschaft auf die faire Wahrheitsfindung zur Feststellung von Schuld oder Unschuld der Angeklagten.»
Unterschiedliche Interessen müssen etwa dann in Einklang gebracht werden, wenn die schlechte psychische Verfassung eines Zeugen berücksichtigt werden soll, der Angeklagte aber auch das Recht haben soll, die Glaubwürdigkeit von ihn belastenden Zeugen zu hinterfragen.
Auch methodisch unterscheiden sich die beiden Disziplinen. So versuchen Psychologen etwa, möglichst offene Fragen zu stellen. Juristen hingegen müssen Zeugen im Interesse der Wahrheitsfindung mitunter mit ihren Erlebnissen konfrontieren, um so deren Glaubwürdigkeit zu testen.
Gegenseitig profitiert
Umso wichtiger war es, sich der unterschiedlichen Perspektiven frühzeitig bewusst zu werden. Dies scheint gelungen zu sein. «Die Rechtswissenschaft hat von der Psychologie enorm profitieren können, was den Umgang mit traumatisierten Zeugen anbelangt», so Christine Kaufmann. Es habe sich klar gezeigt, dass es sinnvoll ist, wenn sich Juristinnen und Juristen psychologische Kenntnisse aneignen.
Bereichernd war die Zusammenarbeit auch für Psychologie-Professorin Ulrike Ehlert: «Es war für uns eine ganz neue Erfahrung, interkulturelle und staatlich regulierte Einflüsse zu berücksichtigen, wenn es darum geht, die psychische Befindlichkeit einer Person zu beurteilen.» Das Kambodscha-Projekt ist für die Beteiligten Anstoss zu weiterer interdisziplinärer Forschung und Diskussion.
Laura Marschner, Doktorandin der Rechtswissenschaft, und Rebecca Brönnimann, Postdoktorandin in Psychologie, sind bereits mit der Fortführung des Projekts beschäftigt. Sie analysieren, nach welchen Kriterien die Glaubwürdigkeit von traumatisierten Zeugen in internationalen Strafverfahren bislang beurteilt wurde.