Navigation auf uzh.ch
Kinder- und Jugendforschung ist so komplex wie das Leben selbst. Und sie beginnt bereits vor der Geburt. Die Tagung «mit ihrem Dream-Team von Referierenden», so Otfried Jarren, Prorektor Geistes- und Sozialwissenschaften der UZH, in seiner Begrüssung, bringe einen Vorgeschmack auf die neue, multidisziplinäre Ausrichtung des Jacobs Center für Jugendforschung: Ab kommendem Jahr kooperieren Spitzenforscher aus Psychologie, Neurowissenschaften, Soziologie, Ökonomie und später auch Medizin mit dem Ziel, die UZH zu einem Leuchtturm der Jugendforschung zu machen.
Bereits die erste Gastrednerin überraschte mit einem innovativen Ansatz. Janet Currie, Professorin für Wirtschaft und Öffentlichkeit an der Princeton University, ging es nicht um Wirtschaftstheorien, sondern um «Frühes Leben und die Wurzeln von Ungleichheit». Diese Ungleichheit beginne schon vor der Geburt.
Ein scheinbar kruder, aber aussagekräftiger Indikator sei das Geburtsgewicht, sagte Currie. Internationale Studien zeigten: Je untergewichtiger ein Neugeborenes, desto höher ist sein Risiko für spätere Schulschwierigkeiten und einen tieferen sozio-ökonomischen Status. Die gute Nachricht: Interventionsprogramme können die Negativeffekte eines niedrigen Geburtsgewichtes verringern. Solche Programme, betonte die Princeton-Ökonomin, müssten indes bereits bei unterprivilegierten Müttern ansetzen. Je besser ihre Schulbildung, desto grösser die Chance, dass diese Frauen, zum Beispiel, nicht rauchen und sich generell besser um ihr Kind kümmern.
Wie verheerend sich frühe Vernachlässigung auf die Gehirnentwicklung auswirkt, zeigte Charles Nelson, Professor für Pädiatrie an der Harvard Medical School. Der international tätige Pädiater untersuchte in einer grossen Studie verlassene rumänische Kleinkinder, die unter dem Ceaucescu-Regime in staatlichen Heimen interniert waren. Mit 52 Monaten betrug der durchschnittliche IQ dieser Kinder maximal 75 Punkte, während er bei normal aufgewachsenen Gleichaltrigen bei 100 Punkten lag.
Entscheidend, so Nelson, sei der Zeitpunkt solcher toxischer Schädigungen: «Je früher und stärker der Stress, desto länger und stärker ist die Schädigung, auch auf das erwachsene Gehirn.» Doch auch hier gibt es eine gute Nachricht. Heimkinder, welche die Forschenden vor dem Alter von zwei Jahren in ausgewählte Pflegefamilien umplatzierten, zeigten mit acht Jahren fast die gleichen Hirnfunktionen wie Gleichaltrige, die zuhause lebten. «Kinder», sagte Nelson, «benötigen Familien - Menschen, die sich um sie sorgen. Und nicht Institutionen.»
Um neuronale Plastizität ging es auch Laurence Steinberg, Professor für Psychologie an der Temple University in Philadelphia und einflussreicher Adoleszenzforscher. Sein Vortrag trug den Titel: «Age of Opportunity: Lessons From the New Science of Adolescence» (so heisst auch sein im September erscheinendes neues Buch). Auf unterhaltsame Art plädierte der Psychologieprofessor dafür, die Adoleszenz nicht bloss als Krise zu sehen, sondern dafür zu sorgen, dass die Jugendlichen aufblühen können: «Die Adoleszenz ist eine verlängerte Periode der Neuroplastizität und unsere beste letzte Chance für Interventionen.»
In den Teenagejahren, so Steinberg, entstehe im Gehirn eine Dysbalance zwischen verstärktem «Sensation Seeking» und verminderter Selbstkontrolle, also riskantem Verhalten. Da die Adoleszenz heute früher beginne und länger dauere, werde die Entwicklung von Selbstkontrolle immer wichtiger. «Jugendliche mit besonders schlechten Voraussetzungen», so Steinberg, «müssen vor sich selber, das heisst vor falschen Entscheiden, die ihren späteren sozioökonomischen Status beeinträchtigen, beschützt werden.» Erfolgversprechende schulische Interventionen seien zum Beispiel Achtsamkeitstrainings, Meditation, Tai Chi oder diszipliniertes körperliches Training.
Ein weiterer Spitzenforscher, Andrew Meltzoff, Professor für Psychologie an der University of Washington, sprach sich für eine bewusstere Wahrnehmung des sozialen Lernens aus: 80 Prozent der Lernvorgänge erfolgten nicht in der Schule, sondern informell – zuhause, auf dem Schulweg etc. Meltzoff hatte die bahnbrechende Entdeckung gemacht, dass Babys durch Imitation lernen, mit weitreichenden Konsequenzen. Denn Emotionen, so Meltzoff, seien ansteckend: Wenn ein Baby sehe, dass die Eltern häufig streiten, werde es später Probleme im Umgang mit Zorngefühlen haben. Meltzoff befasst sich auch mit Stereotypien und Selbstkonzepten wie «IT ist nichts für Mädchen». Als kostengünstige Intervention empfiehlt der Lernforscher den Schulen, ihre Computerräume mit Pflanzen und Naturpostern zu dekorieren: «Mädchen fühlen sich davon angezogen. Und die Jungs nicht abgestossen.»
Auf dem Tagungsprogramm standen auch Referate von Silvia Bunge (University of California at Berkeley), Alexander Grob (Universität Basel) und Marlis Buchmann, Professorin für Soziologie an der UZH und Leiterin des «Jacobs Center for Productive Youth Development».
Fazit der Tagung: Frühe Fördermassnahmen sind Investitionen in die Zukunft. Ihr verlässlichster Verbündeter ist die Plastizität des Gehirns.