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Im 19. Jahrhundert verfolgten viele Staaten aggressive Kolonial- und Expansionsprojekte; das grosse chinesische Kaiserreich weckte entsprechende Begehrlichkeiten. Die britische Krone erzwang 1860 eine Öffnung der Häfen, die westliche Armeeangehörige und Händler, Missionare und Botschafter nach China brachte. Gegen diese westliche Einflussnahme formierte sich die anti-christliche, anti-koloniale Bewegung Yihetuan. Die athletische Erscheinung der in Kampfkunst ausgebildeten Männer trug ihnen im Westen die Bezeichnung «Boxer» ein. Übergriffe und die Belagerung von Kirchen und ausländischen Gesandtschaften in Peking waren Anfang 1900 Anlass für eine brutale Militäroffensive von acht alliierten Armeen – die USA, Russland, Japan, Grossbritannien, Frankreich, Italien, Deutschland und Österreich-Ungarn. Peking wurde eingenommen und zur Plünderung freigegeben.
Im Boxerkrieg starben mindestens 100'000 Menschen, vermutlich 80 Prozent des Kulturgutes in der Stadt und ihrem Umland wurden zerstört oder geplündert. Die entwendeten Wert-, Kunst- und Alltagsobjekte wurden in den Westen gebracht und gelangten über Händler in Museen und Sammlungen in der ganzen Welt.
Auch in der Sammlung des Völkerkundemuseums der Universität Zürich befinden sich chinesische Seidenroben, Bronzen, Rollbilder, Porzellane und Schuhe für gebundene Füsse, bei denen die dringende Vermutung besteht, dass sie aus dem Boxerkrieg stammen. Mareile Flitsch, Museumsdirektorin und Kuratorin für China entschied sich deshalb, ihnen unter dem Titel «Plünderware?» eine Werkstatt-Ausstellung (vgl. Kasten) zu widmen. Parallel dazu hat Flitsch ein Forschungsprojekt beim Bundesamt für Kultur (BAK) eingereicht: Dieses soll einen Überblick über Objekte aus dem Boxerkrieg, die sich in der Schweiz befinden, schaffen und überprüfen, warum und unter welchen Umständen sie in Schweizer Museen gelangt sind. Die gewonnenen Erkenntnisse werden fortlaufend in die Ausstellung einfliessen.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfasste Europa eine Faszination für den als exotisch wahrgenommenen Fernen Osten. Es entstand ein regelrechter Hype um Objekte, die aus dem Kaiserpalast gestohlen worden waren, auch in der Schweiz, wo die Öffentlichkeit den Boxerkrieg mitverfolgte und mehrheitlich mit den Westmächten sympathisierte. «Aus der Plünderung von Peking stammend», heisst es auf Karteikarten zu verschiedenen Objekten, die im Völkerkundemuseum der UZH lagern – ein Vermerk, der zu jener Zeit eher als Echtheitszertifikat und Qualitätsmerkmal denn als Makel verstanden wurde.
1911 dankte der letzte Kaiser ab, in China wurde die Republik ausgerufen. Beamtenkleidung, die kaiserlichen Beamtenprüfungen, kaiserzeitliche Ordnungen und Technologien verloren Prestige und Bedeutung. Die Ausstattung des Kaiserhofs, aber auch jene der einfachen Bevölkerung gehörte einer vergangenen Zeit an. Gebrauchsgegenstände wurden – je nach Perspektive – als Antiquitäten oder Trödelware veräussert. Dies macht es bisweilen schwer, in den hiesigen Sammlungen Verkauftes von Geplündertem zu unterscheiden.
Exemplarisch für das Ende der Ära stehen die überraschend kleinen, spitz zulaufenden Schuhe, die in der Ausstellung in einer freistehenden Vitrine zu sehen sind. Der radikale Wandel reichte bis ins Privateste: Das Binden der Füsse von Mädchen und Frauen – einst Inbegriff von Weiblichkeit in China – wurde verboten. Die zierlichen Schuhe waren nicht länger gefragt. 28 Paar davon finden sich allein im Völkerkundemuseum. Wie sie gesammelt wurden, ist bisher ungeklärt.
In China selbst wird seit Ende des Boxerkriegs immer wieder über den Verbleib des Kulturgutes geforscht. Selten kam es bisher zu Rückgaben, doch in den vergangenen Jahren reagierten Staat und Öffentlichkeit heftig auf Auktionen, in denen offensichtliche Plünderware versteigert wurde. Am Völkerkundemuseum befassen sich Flitsch und ihr Team zusammen mit der chinesischen Gastkuratorin Yu Filipiak nun mit der Geschichte der Objekte und mit der Frage, was ihr Verbleib in der Schweiz für die Chinesinnen und Chinesen heute bedeutet. «Wir werden kaum bei allen Objekten abschliessend feststellen können, ob sie aus der Plünderung von Peking im Jahr 1900 stammen», so Flitsch. Das sei aber nicht das einzige Anliegen. «Es geht auch darum, Verantwortung zu übernehmen. Wir müssen anerkennen, dass wir in unseren Museen und Sammlungen vermutlich geplünderte Objekte besitzen und uns überlegen, wie wir damit umgehen.»