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Borys Malkins (1917–2009) Leidenschaft war das Reisen. Als junger Mann siedelte er von Warschau in die USA über, wo er Insektologie und Anthropologie studierte und während des Zweiten Weltkrieges in der Armee diente. Nach seinem Studium führte er über weite Strecken ein nomadisches Leben und entwickelte ein Arbeitsmodell, das ihm erlaubte, von unterwegs tätig zu sein. Dabei spielte ihm seine zweite Passion in die Hände: Er war begeisterter Sammler, zuerst von Insekten, später auch von Alltagsgegenständen lokaler Bevölkerungsgruppen.
Während vier Jahren gelangten über Malkin mindestens 2'214 Objekte der Noanamá in mehr als ein Dutzend Museen in Nordamerika und in Europa – rund 140 davon ans Völkerkundemuseum der Universität Zürich. Der Sammler fertigte auch umfassende fotografische Dokumentationen zum Gebrauch der Objekte an und erstellte 16-mm-Filme zu ihrer Herstellung, die an heutige Youtube-Tutorials erinnern. Malkin war eingebunden in ein Sammlernetzwerk und hatte eine gute Kenntnis des Ethnografika-Marktes. Die Noanamá besuchte er gleich viermal, da sich die Geschäftsbeziehung zu ihnen offenbar erfolgreich gestaltete – im Unterschied zu anderen indigenen Gemeinschaften, die Kontakte zu Sammlerinnen und Forschenden wehrhaft ablehnten. Indem ihre Objekte über Malkin in europäische und nordamerikanische Museen gelangten, entstand ein Beziehungsgeflecht, das bis in die heutige Zeit weiterwirkt: zwischen Malkin und den Noanamá aber auch zwischen deren Nachkommen und den Menschen, die sich heute mit den Objekten befassen.
Doch wie erlebten die damaligen Noanamá die Begegnungen, die Foto- und Filmaufnahmen? Was hat sie dazu bewogen, Objekte abzugeben? Haben sie die Gegenstände verschenkt oder einen Gegenwert dafür ausgehandelt? Und was sagen heutige Noanamá zur damaligen Praxis und den Sammlungen in westlichen Museen? Diese Fragen sollen im Zuge der Werkstatt-Ausstellung aufgearbeitet werden.
Malkin war ein reger Briefeschreiber, und möglicherweise wird die umfangreiche Korrespondenz mit seiner in Polen lebenden Frau mehr über die Begegnungen zwischen ihm und seinen Zeitgenossen zu Tage fördern. Kuratorin Maike Powroznik entwickelt zudem Gefässe des online- und on site-Austauschs mit heutigen Noanamá, um ihre Perspektiven einzubeziehen: «Ein Hauptziel ist es, die Sammlung den Nachfahren der Urhebergesellschaft bekannt zu machen. Gemeinsam möchten wir herausfinden, welche Objekte wir genau vor uns haben und warum, welches Wissen über die Welt darin bewahrt ist und welcher weitere Umgang damit gepflegt werden soll.»
Arbeitsplätze beim Ausstellungseingang laden die Besucherinnen und Besucher ein, sich anhand von fünf Leitfragen selbst mit den am Museum vorhandenen Quellen zur Noanamá-Sammlung auseinanderzusetzen: mit Dias und Abzügen, Filmen, Karteikarten und Ordnern aus dem Schriftenarchiv. Die ausgestellten Gegenstände – darunter Trinkgefässe, Kochgeschirr, Körbe, Jagdwaffen, Paddel, Schmuck und Spielsachen – werden auf Replika der originalen Karteikarten beschrieben, die detaillierte Notizen von Malkin enthalten. Auf eigene Legenden verzichtet Kuratorin Powroznik bewusst: Sie sollen hinzukommen, sobald im Zuge der Werkstatt-Ausstellung neue Erkenntnisse gewonnen wurden.
Malkin sah in den präsentierten Objekten ein «komplettes Objekt-Set» der materiellen Kultur von Noanamá – ein Verständnis, das die heutige Ethnologie nicht mehr teilt. Die Ausstellungsgestaltung bringt dies mit verschiedenen Spiegeln an den Vitrinen zum Ausdruck. Diese brechen den Verbund der Objekte auf und beziehen zugleich die Besucherinnen und Besucher ein. Die Grenzen zwischen Betrachtenden und Betrachtetem verschwimmen, die über die Objekte angelegten Beziehungen zwischen verschiedenen Menschen werden spürbar. In der Szenografie spiegelt sich so auch ein Vorstellungsbild der Noanamá, auf das Kuratorin Powroznik während ihrer Vorbereitungen gestossen ist: die Welt als eine Art Rhizom, als grosses organisches Geflecht, in dem alles und alle miteinander verwachsen sind.