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Sozialer Kitt

Konsens statt Krawall

Die direkte Demokratie fördert den sozialen Zusammenhalt und nimmt Oppositionsbewegungen den Wind aus den Segeln, das hat sich auch in der Corona-Krise gezeigt. Soziale Medien hingegen bringen Unruhe ins System.
Stefan Stöcklin
landsgemeinde
Die direkte Demokratie fördert den Zusammenhalt, den sozialen Kitt. Im Bild die Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden 2011. (Bild: stock/assalve)

 

Im November 2018 brannte Frankreich. Die «Gilets jaunes» besetzten landauf, landab Verkehrkreisel und heizten dem Establishment ein. In Paris bot die Avenue des Champs-Elysées ein Bild der Verwüstung. Zu Zehntausenden waren die Anhänger der Gelbwesten von der Provinz ins Zentrum der Macht gepilgert und lieferten sich wüste Auseinandersetzungen mit der Polizei. Im ganzen Land gingen Hunderttausende auf die Strasse und empörten sich über höhere Treibstoffpreise. Gefordert wurden die Rücknahme der Beschlüsse und der Rücktritt von Emanuel Macron. Der Präsident lenkte schliesslich ein und nahm die Massnahmen zurück.

Und bei uns in der Schweiz? Im letzten Sommer lehnte das Volk das CO2-Gesetz mit 51,6 Prozent ab und verschaffte dem Parlament und Umweltministerin -Simonetta Sommaruga eine unerwartete Niederlage. «Die Parallele zur Konstellation in Frankreich ist offensichtlich», sagt Daniel Kübler, Professor für Demokratieforschung an der Universität Zürich. In beiden Fällen ging es unter anderem um Treibstoffpreise und Massnahmen gegen den Klimawandel. «Aber während man in Frankreich einen Staatsstreich befürchten musste, konnten die Leute in der Schweiz ihrem Missfallen an der Urne Ausdruck verleihen», sagt Kübler.

Demokratietest Covid-19

Die politische Auseinandersetzung um das CO2-Gesetz ist ein Paradebeispiel für die Funktionsweise der direkten Demokratie. Während andernorts der Volkszorn zu Unruhen führt, mässigt die Konsensdemokratie die Extreme und fördert den Zusammenhalt, den sozialen Kitt. «Unser System integriert die Opposition und entradikalisiert sie», sagt Kübler.

Bereits das Bundesratsgremium ist auf Konsens angelegt und versucht, mehrheitsfähige Beschlüsse zu fällen. Politische Entscheide werden durch Vernehmlassungen in Parteien und Verbänden breit abgestützt. Die Kantone werden einbezogen. Alle können sich äussern, und sollte eine Gruppierung doch nicht zufrieden sein, steht es ihr immer frei, mit einem Referendum dagegen anzutreten.

So wie im Fall des CO2-Gesetzes, das von einer rechtsbürgerlichen Allianz ergriffen wurde. Wie stark dieses System ist, zeigt sich aktuell während der grössten Herausforderung der Demokratie der letzten Jahre, der Covid-19-Pandemie. Zwar gab es zu Beginn des Jahrhundertereignisses im Frühling 2020 eine kurze Phase, während der die Regierung via Notrecht regierte und ohne parlamentarische Beratung massive Eingriffe erliess. Aber diese ausserordentliche Lage währte nur wenige Wochen und wurde so rasch wie möglich wieder aufgehoben. Seither funktioniert unser politisches System wieder wie geölt und zeitigt bemerkenswerte Ergebnisse.

«Ich kann es nicht genug betonen», sagt Daniel Kübler, «wir sind das einzige Land weltweit, in dem die Bürgerinnen und Bürger über Massnahmen gegen Covid-19 abstimmen konnten.» Ein erstes Mal Mitte Juni 2021, ein zweites Mal wenige Monate danach Ende November. Mit einer rekordverdächtigen Stimmbeteiligung von 65,7 Prozent stellten sich 62 Prozent der Stimmberechtigten hinter das Covid-19-Gesetz und hiessen damit auch das Covid-Zertifikat gut, das für besonders hohe Emotionen sorgte. Im Nachgang zeigte sich, dass praktisch alle Altersgruppen für das Gesetz stimmten. «Der klare Entscheid zugunsten des Bundesrats und des Parlaments hat Teilen der Opposition den Wind aus den Segeln genommen», sagt Politologe Kübler.

Diesen Lackmustest einer Volksabstimmung müssen Oppositionsbewegungen in anderen Ländern seltener bestehen. Es erstaunt daher nicht, dass sich Teile des Referendumskomitees wie die «Freunde der Verfassung» nach der Abstimmung zerstritten und wichtige Köpfe von der Bildfläche verschwanden. Der Opposition fällt es schwer, sich nach einer Niederlage zu legitimieren. Der Protest verpufft.

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«Unser demokratisches System integriert die Opposition und entradikalisiert sie», sagt Politikwissenschaftler Daniel Kübler. (Bild: zVg)

Blickt man etwas weiter zurück, finden sich schnell weitere Beispiele von Bewegungen, die sich anfangs auf der Strasse formierten und sich nach und nach mit den staatlichen Institutionen arrangierten und entradikalisierten: die Friedens- und Anti-AKW-Bewegung in den 1970er-Jahren oder die Jugendbewegungen der 1980er- und 1990er-Jahre. Zwar waren die Bewegungen unterschiedlich erfolgreich, aber in keinem Fall radikalisierten sich die Anhänger. Eben auch, weil das direktdemokratische System den Protest in institutionalisierte Bahnen umlenkt und den demokratischen Mehrheitsentscheiden unterwirft.

«Volksentscheide haben eine gewaltige Kraft», sagt Daniel Kübler. Auch wenn sie knapp ausfallen, wird das Ergebnis akzeptiert. Dieses demokratische Selbstverständnis bestreiten selbst die grössten Kritiker und Kritikerinnen des Staates und der Institutionen nicht.

Viel Sozialkapital dank Vereinen

Wie kaum in einem Land schaffen unsere direktdemokratischen Rituale eine gemeinsame Identität und fördern den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Der Politologe Markus Freitag von der Universität Bern hat den Begriff «Sozialkapital» in der Schweiz untersucht. Er ist ein Mass für das Vertrauen in Mitmenschen, aber auch in Behörden und Institutionen. Gemäss Untersuchungen ist das Sozialkapital in der Schweizer Bevölkerung besonders hoch, im Vergleich mit anderen Ländern Europas rangiert die Schweiz in den vordersten Rängen.

Ein massgebender Grund ist laut Freitag die hohe Zahl von Vereinen und ihre Popularität. Jeder und jede ist hierzulande mindestens Mitglied in einem Verein, in ländlichen Regionen deutlich mehr. In den Vereinen entwickelt man Gemeinschaftsgefühl und lernt, nicht nur an sich selbst zu denken, sondern an das Kollektiv. Sie sind Schulen der Demokratie. Ebenso ist die Freiwilligenarbeit – auch ein Element des Sozialkapitals – in der Schweiz besonders ausgeprägt. Das hohe Sozialkapital hierzulande korreliert mit dem grossen Vertrauen in die Behörden. Sie ist eine Erklärung dafür, wieso die harten Bestimmungen während der Pandemie erstaunlich diszipliniert eingehalten wurden. Laut Studien befolgten die Leute die strikten Ausgangsregeln zu über 90 Prozent.

Trotz der hohen Integrationsfähigkeit der direkten Demokratie zeigen sich im sozialen Gefüge auch Risse. Die letzte Abstimmung zum Covid-19-Gesetz, die nur hierzulande möglich war, hat die Pro- und Contra-Lager ausserordentlich stark polarisiert und emotionalisiert, wie Nachanalysen bestätigten.

«Diese Polarisierung macht mir schon Sorgen», sagt Daniel Kübler. Das unterlegene Contra-Lager habe mit 38 Prozent der Stimmen ein grosses Gewicht und werde so rasch nicht verstummen. Als weiterer Faktor kommt die wachsende Bedeutung der sozialen Medien hinzu, die auf Emotionen und polarisierende Argumente bauen. Gemäss Vox-Analysen hat sich das Contra-Lager stärker als das Pro-Lager von Beiträgen auf Social Media beeinflussen lassen.

Die Vox-Analyse bestätigt, was der Forscher Karsten Donnay feststellt: «Minderheiten können sich auf den Kanälen von sozialen Medien überproportional viel Gehör verschaffen», sagt der Assistenzprofessor für Political Behavior and Digital Media der UZH. Oft sind es nur wenige Wortführer, die extreme Aussagen veröffentlichen, aber sie erzielen mit ihren Posts beträchtliche Reichweiten.

Die Leute steigen online leichter auf solche Aussagen ein und verbreiten sie weiter. Im Fall der Corona-Massnahmen-Gegner konnte man dies auch in der Schweiz beobachten. «Ich denke, dass man diesen Verstärkungseffekt der sozialen Medien kritisch beobachten muss», sagt Donnay. Vor allem dann, wenn emotional geführte Diskussionen eskalieren und Leute mit Hassrede eingedeckt werden. Die verbale Verunglimpfung von Personen kommt leider auch hierzulande immer wieder vor, gerade im Zusammenhang mit Covid-19. «Solche Drohungen und Hassreden sind nicht akzeptabel», betont Donnay, «die darf man so nicht stehen lassen.»

Moderate Meinungen gehen unter

Emotionale Diskurse müssen nicht a priori schlecht sein. Aufmunternde Katzenbilder und gefühlsbetonte Alltagsbemerkungen schaden ja niemandem. Im politischen Diskurs hingegen werden aufgeheizte Statements rasch heikel und vergiften unsere Konsenskultur. Dabei ist die Emotionalität eingebaut in das Funktionsprinzip der sozialen Medien. Die Algorithmen spülen die affektiven und polarisierenden Aussagen gezielt an die oberste Stelle der Feeds, das heisst der digitalen Aufmacherseiten.

Das führt einerseits dazu, dass sich Leute mit differenzierenden Äusserungen zurückhalten, weil ihr Engagement wenig Beachtung erhält. Andererseits verstärken sich die emotionalen Äusserungen gegenseitig und damit die Polarisierung. «Die Wortführer vertreten häufig extremere Standpunkte, die Moderaten kommen nicht zur Geltung», sagt Karsten Donnay.

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«Minderheiten können sich auf den Kanälen von sozialen Medien überproportional viel Gehör verschaffen», sagt Karsten Donnay, Professor für Political Behavior and Digital Media.

Eine wichtige Frage, die Politologen beim Thema soziale Medien umtreibt, ist die der Segmentierung. Führen die digitalen Informationsgefässe zu einer stärkeren Zersplitterung der Information und dazu, dass sich die Leute zunehmend in den eigenen Echokammern vom Mainstream absetzen? Karsten Donnay relativiert dieses Phänomen, wobei empirische Studien aus der Schweiz dazu fehlten. Untersuchungen in den USA hätten aber gezeigt, dass der Trend hin zu Echokammern nicht so gross sei wie befürchtet. Dennoch sind Echokammern ein Problem, wie zum Beispiel die rechtsgerichtete Facebook-Seite «Like Schweiz» zeigt, die vom Digital Democracy Lab der UZH untersucht wurde. Wer hinter der Seite steht, die im Mai 2020 erstellt wurde, ist nicht bekannt. Sicher ist, dass sie die politische Debatte mit rechtsgerichteten Statements emotional auflädt.

Mit unzimperlichen Aussagen gegen Islamisten, Bettler, Europa, Corona-Massnahmen etc. und Videos auf Youtube bedient die Seite ihre User und macht Abstimmungskampf der aggresiveren Sorte. Diese Art von Seiten sei problematisch, sagt Donnay, weil sie Leute radikalisieren kann.

Wie man in den USA beim Sturm auf das Capitol gesehen habe, kann sich die verbale Gewalt in physische Handlungen übersetzen. Von solchen Szenarien sind wir in der Schweiz weit entfernt. Eine Gefahr für den so-zialen Kitt sieht der Politikwissenschaftler durch soziale Medien in der Schweiz nicht, zumindest noch nicht. «Es braucht viel, um die stark verankerte direkte Demokratie zu destabilisieren», sagt Donnay.

Konsens in Gefahr

Mittelfristig bereitet ihm wie seinem Kollegen Daniel Kübler die zunehmende Polarisierung der Gesellschaft sorgen. Weil extreme Standpunkte in den sozialen Medien übermässig sichtbar sind, können sie die politischen Gräben tiefer erscheinen lassen, als sie sind. Die Online-Sphäre entkoppelt sich von der realen Diskussion. «Auf Dauer könnten die Menschen so das Gespür für den gesellschaftlichen Konsens verlieren», sagt Donnay.

Mit der Folge, dass die Politik immer mehr Mühe hat, mehrheitsfähige Kompromisse zu schmieden. Zu befürchten wäre eine Schwächung des Zusammenhalts. Die Gelbwesten aus dem heissen Pariser Herbst könnten dann Nachahmer auf der Zürcher Bahnhofstrasse finden.

Dieser Artikel ist Teil des Dossiers «Sozialer Kitt – Was uns verbindet» aus dem aktuellen UZH Magazin 3/22.

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