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Seit fast zwei Jahren hält uns die Covid-19-Pandemie in Atem, kaum ein Bereich des menschlichen Zusammenlebens blieb davon unberührt. Wie vielfältig die Auswirkungen der Krise sind, zeigt das «Weissbuch Corona», herausgegeben von Frank Rühli, Dekan der Medizinischen Fakultät der UZH und Professor für Evolutionäre Medizin, sowie von UZH-Rechtsprofessor Andreas Thier.
Der Sammelband bietet eine Fülle an Beobachtungen, Analysen und Bewertungen aus verschiedensten Lebens- und Wissensbereichen und spiegelt damit die Pluralität der öffentlichen Diskussion während der ersten drei Pandemie-Wellen. Das Spektrum reicht von Religion und Kultur über Recht und Politik, Gesundheit und Erziehung, Wirtschaft und Verkehr bis hin zu Tourismus und Umwelt.
«Die Covid-19-Pandemie ist eine Krise der gesamten Gesellschaft und damit des gesamten Systems der Schweiz», schreiben die Herausgeber. «Entscheidend für die Bewältigung dieser Krise muss deshalb ein buchstäblich ganzheitlicher perspektivischer Ansatz sein.»
Fünf Beiträge des Weissbuchs stammen aus der Feder von Fachexperten der UZH, hier einige Ausschnitte daraus:
Konrad Schmid, Theologie-Professor an der UZH, schreibt: «Die Covid-19-Krise hat die Schweiz schmerzhaft daran erinnert, dass menschliches Leben verletzlich ist und bleibt, dass bestimmte Herausforderungen grösser sind als die ihnen entgegengestellten ‘Lösungen’ und dass man einer Krise wie dieser Pandemie nur in gemeinsamen, koordinierten Anstrengungen begegnen kann.»
Was künftige Krisen anbelangt, rät Schmid:
«Die Kirchen und Religionsgemeinschaften, aber auch die wissenschaftliche Theologie haben zunächst deutlich zu machen, dass kommenden Krisen (…) mit dem vielleicht trivial wirkenden, aber elementaren und doch oft vernachlässigten Grundgedanken begegnet werden muss, dass der Mensch selbst im Anthropozän einem grösseren Ganzen gegenübersteht, das er nicht vollständig, ja nicht einmal zur Hauptsache kontrollieren kann. (…) Die Religion kann als Resonanzraum für umfassende Fragen nach der Stellung des Menschen gegenüber dem Unverfügbaren dienen – als gute Religion lässt sie diese Fragen zu, analysiert sie und versucht sie zu verstehen und einzuordnen, aber sie wartet nicht mit vorschnellen Antworten auf.»
Schmid sieht die Kirchen und Religionsgemeinschaften in der Pflicht, sich «für eine umfassende, respektvolle und angemessene Diskussionskultur einzusetzen und für mehr private und öffentliche Gelassenheit und Toleranz im Umgang mit entstandenen Problemen und gescheiterten Lösungsversuchen zu sorgen.»
Heiko Hausendorf, Professor für Deutsche Sprachwissenschaft an der UZH, schreibt:
«Ohne dass es als Versuchsanordnung irgendwo festgelegt worden wäre, ist seit März 2020 auch in der Schweiz ein einzigartiges soziales Grossexperiment angelaufen. Es besteht in der weitreichenden Einschränkung von Interaktion, die als eine auf Kopräsenz (bzw. Anwesenheit) beruhende Sozialform auf einen Schlag (und zu Recht!) unter den Generalverdacht der Pandemieverbreitung geraten ist.»
Das Sozialleben ist trotz Lockdown, Home-Office und Abstandsregeln weitergegangen. Dazu hat auch die rasche Verbreitung von Kommunikationssoftware für Meetings und Videokonferenzen beigetragen. Hausendorf erklärt, weshalb «Zoom» & Co. sich so rasch im Alltag vieler Menschen etablieren konnten:
«Vieles von dem, was jetzt als ‘künstlich’, ‘belastend’ oder ‘erschwerend’ mit Blick auf das ‘Zoomen ins Feld geführt wird, ist nichts Neues. (…) Die auf Anwesenheit beruhende Interaktion war nie ein Wohlfühlsetting, sondern schon immer ein durch und durch strukturiertes, regel- und gesetzmässig ablaufendes Geschehen, das an die Beteiligten systematische Anforderungen stellt, darunter eine nicht zu unterschätzende Körperdisziplin. Man musste, vereinfacht gesagt, schon immer zeigen, dass man auch anwesend ist.
Weil das so ist, ist Interaktion wandel- und entwickelbar, das heisst mit dem Entstehen neuartiger Technologien auch über den Kreis des Hier und Jetzt ausdehnbar, und überhaupt sehr robust und anpassungsfähig an interaktionsfeindliche Umwelten, in denen zum Beispiel die menschliche Sinneswahrnehmung massiv eingeschränkt ist.»
«Krisen sind Zeiten der Exekutive», schreibt Felix Uhlmann, UZH-Professor für Staats- und Verwaltungsrecht sowie Rechtsetzungslehre. «Regierung und Verwaltung verfügen über die Ressourcen, um einer Krise wirksam entgegenzutreten. Aus diesem Grund wird Notrecht vor allem als Recht der Exekutive verstanden.» Und Uhlmann fährt fort: «Je grösser die Krise, desto exekutiv- und bundeslastiger wird die Lösung.»
Für die schweizerische Konsensdemokratie sei die Pandemie eine grosse Herausforderung, insbesondere die Parlamente seien auf die Krise nicht vorbereitet gewesen, schreibt Uhlmann. «Viele Parlamente haben sich schwergetan, ihre Rolle zu finden, so auch die Bundesversammlung.»
Auch im Hinblick auf das Verhältnis von Bund und Kantonen habe das Notrecht schwierige Fragen aufgeworfen: «Der Ton zwischen Bund und Kantonen erscheint insgesamt rauer als zwischen Legislative und Exekutive, obwohl beiderorts beträchtliche Rechtsunsicherheiten bestanden. Dies lässt vermuten, dass das Notrecht im Föderalismus weniger eine juristische als eine politische Frage ist. In der Tat fehlt es an einem gefestigten Rollenverständnis von Bund und Kantonen. Dieses muss objektiv und sachlich weiter untersucht werden (…).»
«Die Coronakrise war und ist auch eine Informationskrise», schreiben Abraham Bernstein, Professor für Informatik, und Florent Thouvenin, Professor für Informations- und Kommunikationsrecht.
«Das Problem ungenauer, verzögerter oder fehlender Informationen wurde zwar früh erkannt, konnte aber nur punktuell behoben werden und hat uns durch die ganze Pandemie begleitet. Die Beispiele sind zahlreich. Sie reichen von verzögerten und falschen Meldungen über Infizierte und Verstorbene über das Fehlen verlässlicher Angaben zu den verfügbaren Beatmungsgeräten und freien Betten in Intensivstationen bis hin zum fehlenden Wissen, wie sich Menschen tatsächlich am häufigsten angesteckt haben.»
Die Autoren sehen zwei Hauptgründe, weshalb vorhandene Daten in vielen Fällen kaum sinnvoll genutzt werden konnten: «Zum einen – und vor allem – werden Daten ganz überwiegend in isolierten Silos gehalten und in unterschiedlichen Formaten gespeichert, was verhindert, dass Daten untereinander verbunden und nach einheitlichen Kriterien analysiert werden können. (…) Zum anderen setzt das Datenschutzrecht der Nutzung der Daten Grenzen. (…) Neben den real existierenden datenschutzrechtlichen Grenzen ist dabei oft ebenso bedeutsam, dass sich die Beteiligten selbst grosse Zurückhaltung auferlegen, weil die Rechtslage unklar oder unbekannt ist (…).»
Was ist laut Bernstein und Thouvenin zu tun? «Ein vielversprechender Ansatz zur Lösung dieses Problems besteht darin, bei der Datennutzung zwischen einem ‘Normalmodus’ und einem ‘Krisenmodus’ zu unterscheiden und im Fall einer Pandemie oder einer anderen Gesundheitskrise Nutzungen von Daten zu ermöglichen, die sonst weder möglich noch zulässig sind. (…) Auf technischer Ebene ist zentral, dass die Daten im gesamten Gesundheitssystem in einer Weise gespeichert und bearbeitet werden, die eine Nutzung im Krisenmodus erlaubt (‘shareable data’). (…) Auf rechtlicher Ebenen muss in erster Linie ein Mechanismus verankert werden, der es erlaubt, unter bestimmten Voraussetzungen vom Normalmodus in den Krisenmodus zu wechseln.»
Alexander Wagner, Professor für Finance an der UZH, analysiert in seinem Beitrag die Reaktion der Finanzmärkte in den ersten Monaten der Pandemie. «Im März 2020 kam es innert weniger Wochen zu einem dramatischen Einbruch. Dabei war weniger die Grösse des Einbruchs (etwa 30 Prozent, je nach Land) bemerkenswert als vielmehr die Geschwindigkeit. (In der Finanzkrise 2007/08 kam es teilweise zu Einbrüchen von 80 Prozent, aber über viel längere Zeiträume.)»
Die Aktienmärkte erholten sich nach dem ersten Einbruch rasch. Wagner erklärt dies so: «Aktienkurse richten sich auf zukünftige Gewinne, und auch wenn die kurzfristigen Gewinne für viele Branchen stark eingetrübt waren, so waren die mittel- und langfristigen Gewinnerwartungen weit weniger stark tangiert, und selbst die kurzfristigen Gewinnerwartungen sind für viele Unternehmen wieder gestiegen.»
Wagner widmet sich in seinem Beitrag unter anderem auch der Frage, welche Faktoren in der ersten Pandemiephase zur Krisenfestigkeit bzw. Krisenanfälligkeit von Unternehmen beigetragen haben. In den USA fielen insbesondere die Aktienkurse von Unternehmen mit hohen Schulden und geringen Cash-Beständen stark. Und in der Schweiz? «Es zeigt sich erstens, dass hohe Ertragskraft Unternehmen resilienter machte – die Starken wurden stärker. Zweitens zeigt sich aber interessanterweise, dass in der Schweiz in der an sich heissen Phase der Krise (also im März 2020) die Verschuldung von Unternehmen (…) kein Faktor war, der die Aktienkursperformance erklärte.» Als Grund vermutet Wagner, dass Schweizer Unternehmen im internationalen Vergleich weniger verschuldet sind. «Als Puffer gegen zukünftige Krisen lohnt es sich für Unternehmen also – auch in Zeiten sehr niedriger Zinsen –, ein ausreichendes Cash-Polster aufzubauen.»