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Matthias Mahlmann: Die Literatur beschäftigt sich von jeher mit dem Recht. Sie erzählt von der Hoffnung aufs Recht, vom Vertrauen ins Recht, von Kämpfen ums Recht und auch von enttäuschten Erwartungen ins Recht. Für Rechtsstaaten ist die offene, kritische Diskussion über das Recht und seine Grundlagen so lebenswichtig wie für Menschen die Luft zum Atmen.
Lukas Bärfuss: Ich habe mir kürzlich im Louvre in Paris den Codex Hammurapi angesehen, der vor 3800 Jahren in Babylon verfasst wurde. Man weiss nicht genau, ob es sich dabei um einen Gesetzestext oder ein Gedicht handelt. Das ist irritierend, da wir gewohnt sind, strikt zwischen einer Sphäre des Rechts und einer Sphäre der Literatur zu unterscheiden. Dabei gibt es viele Berührungspunkte und Überschneidungen, und es ist faszinierend, ihnen nachzugehen. Ganz grundsätzlich sind Recht und Literatur beide sprachlicher Natur.
Bärfuss: Es gab und gibt immer Gründe, unter der jeweiligen gesellschaftlichen Ordnung zu leiden. Aber das durch Chaos, Willkür und Gewalt verursachte menschliche Leid ist viel grösser. Menschen haben ein fundamentales Bedürfnis nach Ordnung und Berechenbarkeit, deshalb gibt es das Recht. Und aus demselben Grund, behaupte ich, gibt es auch die Literatur.
Bärfuss: Es ist für uns überlebenswichtig, Wahrscheinlichkeiten und Risiken einschätzen zu können. Wie wird sich der Löwe verhalten, der im Gebüsch lauert? Wie vertrauenswürdig sind die Leute am anderen Flussufer? Geschichten vermitteln und veranschaulichen menschliche Erfahrungen und ersparen es uns, sämtliche Fehltritte zu wiederholen, die andere schon gemacht haben. Wir müssen nicht jedes Unglück selbst erlebt haben, um Lehren daraus zu ziehen. Um zum Beispiel unsere Kinder davor zu schützen, unters Auto zu geraten, erzählen wir ihnen, was passieren kann, wenn sie bei Rot über die Strasse gehen.
Bärfuss: Indem wir uns Geschichten erzählen, schaffen wir gemeinsame Erwartungsräume. Geschichten machen das Leben berechenbarer, damit haben sie eine ähnliche Funktion wie Gesetze und Regeln. Geschichten wie Gesetze bilden eine Grundlage für jegliche Art menschlicher Gesellschaft.
Mahlmann: Unser Rechtsstaat ist das Ergebnis jahrhundertelangen Streitens. Heute nehmen wir ihn als fast naturgegeben hin. Es scheint selbstverständlich, dass wir die Freiheitsrechte der Schwächeren vor der Gewalt der Stärkeren schützen, dass wir uns an Verträge halten und Konflikte auf einem geordneten Rechtsweg lösen. Die autokratischen Tendenzen, die wir gegenwärtig in vielen Ländern beobachten, zeigen aber, dass rechtsstaatliche Prinzipien viel zerbrechlicher sind, als wir denken. Der Rechtsstaat ist nur so stark wie der Wille seiner Bürgerinnen und Bürger, für ihn einzustehen.
Mahlmann: Sie kann uns plastisch vor Augen führen, warum es in unserem ureigenen Interesse liegt, dem Recht Sorge zu tragen. Wer in der Schweiz lebt, hat in den seltensten Fällen erfahren, was es heisst, der Willkür und der Gewalt ausgesetzt zu sein. Literatur kann Gewalterfahrungen begreifbar machen. Nehmen Sie zum Beispiel das Buch «Hundert Tage» von Lukas Bärfuss: Der Roman erzählt davon, wie 1994 der vormalige Musterstaat Ruanda im Chaos eines Völkermords versank.
Bärfuss: Unsere individuelle Lebensführung ist viel enger verknüpft mit den Rechtsverhältnissen, als uns dies normalerweise bewusst ist. Rousseau sagt, dass jeder Mensch frei geboren ist. Er sagt aber auch, dass diese Freiheit nur gelebt werden kann, wenn sie durch ein für alle geltendes Recht geschützt wird. Fehlt dieser Schutz, wird es sehr schwer oder sogar lebensgefährlich, ein in moralischer Hinsicht gutes Leben zu führen. Wir tendieren in der Schweiz oder Westeuropa dazu, die relative Berechenbarkeit unserer gesellschaftlichen Verhältnisse als natürlichen Zustand anzusehen. Aber über Jahrhunderte genoss nur eine privilegierte Minderheit der Bevölkerung den vollen Schutz des Rechts. Die Mehrheit war davon ausgeschlossen und damit der Willkür der Mächtigen ausgesetzt. Und in weiten Teilen der Welt ist das bis heute so.
Mahlmann: Ja, Recht wurde und wird auch eingesetzt, um Unterdrückung zu organisieren und Privilegien für einzelne Gruppen zu sichern. Im Kern ist Recht aber ein Gerechtigkeitsprojekt. Der demokratische Verfassungsstaat ist darauf angelegt, das bestehende Recht immer weiter zu verbessern mit Blick auf Wertgrundlagen wie zum Beispiel Freiheit, Solidarität und Menschenwürde.
Bärfuss: Diese Frage lässt uns nicht mehr los, seit sie in den griechischen Tragödien vor zweieinhalbtausend Jahren aufgeworfen wurde. Es ist atemberaubend, wie Sophokles in seinem Stück «Antigone» die Forderung nach Gleichheit aller Bürger vor dem Recht auf die Prinzipien der Familienloyalität und der Treue zum Brauchtum prallen lässt. Antigone gewichtet die Familie und die alten Bräuche höher und nimmt dafür den Tod in Kauf. Die eigentlich tragische Figur im Stück ist meiner Meinung nach aber ihr Onkel, König Kreon, der auch oberster Richter ist. Weil er das Prinzip der Rechtsgleichheit in der Polis nicht korrumpieren will, sieht er sich gezwungen, seine Nichte zu verurteilen. In der Rechtsphilosophie gibt es kontroverse Haltungen zu Kreon. Ich habe grosse Sympathien für seine Position. Trotzdem macht mir Sophokles’ vielschichtige Darstellung des Falls auf beunruhigende Art deutlich, dass Kreons Entscheid für die Rechtsgleichheit doch nicht ganz gerecht ist.
Mahlmann: Genau. Im Gegensatz zum Gericht, das irgendwann zu einem Urteil kommen muss, kann die Literatur es sich leisten, verschiedene, schwer zu vereinbarende Gesichtspunkte nebeneinander bestehen zu lassen und die Spannung dazwischen auszuhalten. Sie zeigt, wo Recht ungerecht ist – und drängt uns dazu, es gerechter zu machen. Das ist der bleibende Stachel der Tragödie Antigones, die ein Recht der Humanität gegen Kreon einfordert.
Mahlmann: Unser Gerechtigkeitsurteil wird genauer, wenn wir uns in fremde Positionen hineindenken. Und die Literatur hilft dabei. Sie stellt unbequeme Fragen, bringt uns fremde Sichtweisen näher, relativiert Gewissheiten und reisst uns aus unserer Selbstgerechtigkeit.
Bärfuss: Oft genug realisieren wir ja selbst nicht, wie ungerecht wir sind in unseren Handlungen und Urteilen. Ein mahnendes Beispiel ist für mich Thomas Jefferson. Er war der Hauptautor der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung und einer der grossen Vorkämpfer für die Idee universaler Menschenrechte. Zugleich verteidigte er die Sklavenhaltung und hielt sogar selbst Sklaven. Er glaubte an die Überlegenheit der Weissen, zugleich hatte er Kinder mit einer Sklavin. Von heute aus betrachtet kommt mir das unfassbar arrogant und widersprüchlich vor. Dabei war er sicher nicht weniger einfühlsam als ich und schon gar nicht dümmer. Er war in vielem ein Visionär, aber trotzdem befangen in den Denkkonventionen seines Umfelds und seiner Zeit. So wie wir alle. Man sieht daran, wie Konventionen unser Denken beherrschen und wie schwer es ist, sie zu durchbrechen.
Mahlmann: Es gibt viele Errungenschaften, ihre Rücknahme bleibt aber immer möglich und ist in Staaten, in denen autoritäre Populisten den Verfassungsstaat angreifen, ganz real.
Bärfuss: Es gibt immer wieder Rückschritte, doch ich denke, unter dem Strich überwiegt der Fortschritt. Der Weg ist aber noch sehr weit. Noch immer ist ein gewaltiger Teil der Menschheit rechtlich ungeschützt, noch immer sind viel zu viele Menschen Willkür und Gewalt ausgesetzt. Viele Länder kennen zum Beispiel kein Habeas Corpus. Man muss jederzeit damit rechnen, einfach auf der Strasse verhaftet und mitgenommen zu werden, ohne die Aussicht, dass ein ordentliches Gericht die Haft prüft.
Mahlmann: Das Drohpotenzial der Gewalt ist längst nicht das einzige Mittel. Auch politischer Druck kann sehr wirksam sein, vor allem, wenn er aus dem Inneren der Zivilgesellschaft kommt. Ein gutes Beispiel ist die Europäische Menschenrechtskonvention. Die Staaten folgen in der Regel den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte in Strassburg, obwohl dieser keine Armee kommandiert.
Mahlmann: Weil genug Bürgerinnen und Bürger dieser Länder von den rechtsstaatlichen Prinzipien überzeugt sind. Der Philosoph Ernst Cassirer hat gesagt, die einzige Sicherung gegen den Totalitarismus sei die Geistesverfassung der Bürgerinnen und Bürger. Ich teile diese Auffassung. Der Rechtsstaat ist ein geschichtlich gewachsenes Kulturgut. Was ihn trägt, ist das staatsbürgerliche Engagement für gemeinsame Werte wie Demokratie, Freiheit, Gerechtigkeit, Menschenwürde.
Bärfuss: Was die Wertorientierungen anbelangt, bin ich anderer Meinung. Ich halte sie für weniger bedeutend für den Rechtsstaat. Welche Werte zum Beispiel meine Nachbarn haben, ist mir als Staatsbürger eigentlich gleichgültig. Ich möchte einfach nach denselben Gesetzen beurteilt werden und dieselben Pflichten haben. Der Vorteil der Gesetze gegenüber den Werten ist ja, dass sie die Menschen danach beurteilen, was sie tun, und nicht danach, was sie denken. Die Gedanken sind frei. Solange wir verlässliche Gesetze haben, müssen wir uns nicht gegenseitig unserer Werte versichern, um nachbarschaftlich miteinander auszukommen.
Mahlmann: Werte und Gesetze lassen sich aber nicht so leicht trennen. Sie sind eng aufeinander bezogen. Viele Gesetze wurden erlassen, um bestimmten Werten wie Freiheit, Gerechtigkeit und Menschenwürde Verbindlichkeit und Geltung zu verschaffen. Bei der Auslegung des Rechts muss man sich immer auf die hinter dem Recht stehenden Werte beziehen.
Bärfuss: Und dennoch bleibt oft schwammig, was mit den Wertbegriffen gemeint ist. Der Begriff «Würde», der in der Schweizer Bundesverfassung an prominenter Stelle steht, hat zum Beispiel viele Bedeutungsschichten, und manche davon sind mir eher suspekt. Mit dem deutschen Wort «Würde» ist ursprünglich Körperbeherrschung gemeint. Und im lateinischen «Dignitas» schwingt die Bedeutung des schmerzfreien Todes mit.
Mahlmann: Er meint im Kern, dass der Mensch nicht als Mittel zum Zweck benutzt werden darf und dass die menschliche Person zu schützen und zu respektieren ist. Der Begriff ist fest im Recht verankert. Es wäre fatal, wenn man ihn preisgeben würde, denn dann verlöre das darauf bezogene Recht viel von seiner humanisierenden Kraft.
Bärfuss: Dieses rechtspragmatische Argument leuchtet mir ein. Und ich habe spontan leider auch keine Alternative für den Begriff «Würde» anzubieten. Ich möchte in diesem Zusammenhang aber noch anmerken, dass mir die Themen, die mit diesem schwierigen Begriff angesprochen werden, schon sehr wichtig sind. Seit Beginn der Corona-Pandemie gibt es zum Beispiel erschreckende Tendenzen, den Wert des menschlichen Lebens an seiner wirtschaftlichen Produktivität zu messen. Das widerspricht dem Grundsatz, Menschen nicht unter zweckrationalen Gesichtspunkten zu bewerten.
Bärfuss: Wir sollten immer wieder darüber sprechen, was wir mit den Begriffen, die für unser Zusammenleben so grundlegend sind, meinen. Wenn wir diese Begriffe wie Heiligtümer behandeln, werden sie mit der Zeit hohl.
Mahlmann: Richtig, man muss diesen Begriffen immer wieder neues Leben einhauchen. Das Recht kann dabei viel von der Literatur, aber auch die Literatur manches vom Recht lernen.