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Wo Gott hockt

Stühle und andere Sitzgelegenheiten sind nicht nur bequem, sie werden auch zur Inszenierung von Macht eingesetzt. Eine Kunsthistorikerin untersucht das Phänomen – von alten Thronen bis «Sofagate» und Putin hoch zu Ross.
Simona Ryser
Anfang April 2021 hatte nur EU-Ratspräsident Charles Michel auf einem Sessel neben dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan Platz nehmen dürfen. EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen musste hingegen abseits auf einem Sofa sitzen. Der Vorfall wurde als Sofagate bekannt.

 

Drei Personen – eine Frau, zwei Männer – betreten den Raum. Es stehen nur zwei Stühle im Zentrum. Die Männer setzen sich, die Frau, nach einem kurzen irritierten «Ähm?», begibt sich abseits aufs Sofa. Nein, hier handelt es sich nicht um ein Sesselspiel unter Erwachsenen, sondern um einen öffentlichkeitswirksamen Vorfall auf dem Parkett der Spitzenpolitik, der unterdessen unter dem Schlagwort «Sofagate» kursiert. Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hatte für das Treffen EU – Türkei im April nur zwei Stühle vorgesehen, auf die sich er und EU-Ratspräsident Charles Michel setzten. Die Dritte im Bunde, die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, musste auf dem Sofa Platz nehmen, das abseits stand.

Hausherr Erdogan

«Diese Szene zeigt exemplarisch, wie selbst heute noch mit Stühlen und Sitzordnungen Macht inszeniert werden kann», sagt Sabine Sommerer vom Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich. In ihrem vom Forschungskredit der UZH und vom Fonds zur Förderung des akademischen Nachwuchses (FAN) von UZH Alumni geförderten Habilitationsprojekt untersucht sie, wie im Mittelalter mit Sitzgelegenheiten Herrschaft dargestellt, erwirkt und ausgeübt wurde.

Da gibt es eine lange Tradition. «Erdogan handelte ganz nach mittelalterlichem Brauch», erklärt sie. Als Hausherr sei er derjenige, der die Sitzordnung und das Protokoll festlegen darf – auch wenn es gegen bestimmte Konventionen verstösst. So blamierte und provozierte Erdogan seine Gäste mit einfachsten Mitteln vor der ganzen Welt und führte die EU-Spitzenpolitikerin und den EU-Spitzenpolitiker sozusagen vor versammeltem Publikum auf der Bühne des Politiktheaters vor. Er zeigte demonstrativ, wer der Boss ist.

Sabine Sommerer liest das «Sofagate»-Foto wie ein mittelalterliches Herrscherbild: Die Haupt­achse ist auf die beiden Stühle im Zentrum ausgerichtet, auf denen Erdogan und Michel sitzen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sitzt weiter vorne auf dem Sofa, auf gleicher Höhe wie der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu. So entsteht der Eindruck, sie sitze tiefer. Genau diese Hierarchie kennt man aus mittelalterlichen Thronbildern, auf denen der Herrscher erhöht im Zentrum platziert ist, der Rangnächste stets rechts von ihm, während die übrigen Personen weiter entfernt und tiefergestellt gezeigt werden.

Sabine Sommerer liest das «Sofagate»-Foto wie ein mittelalterliches Herrscherbild: Die Haupt­achse ist auf die beiden Stühle im Zentrum ausgerichtet, auf denen Erdogan und Michel sitzen. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen sitzt weiter vorne auf dem Sofa, auf gleicher Höhe wie der türkische Aussenminister Mevlüt Çavuşoğlu. So entsteht der Eindruck, sie sitze tiefer. Genau diese Hierarchie kennt man aus mittelalterlichen Thronbildern, auf denen der Herrscher erhöht im Zentrum platziert ist, der Rangnächste stets rechts von ihm, während die übrigen Personen weiter entfernt und tiefergestellt gezeigt werden.

Ein Zeichen der Distinktion

Sitzen ist nicht nur ein Privileg der Bequemlichkeit, sondern insbesondere der Hoheit, es ist ein Zeichen der Distinktion, meint Sommerer. Sitzen darf der König, die Äbtissin, der Bischof, der Papst. Wer «thront», ist erhöht, über dem Volk. «Stühle sind weit mehr als blosse Gebrauchsgegenstände – sie erzählen etwas über Würde, göttliche Macht und Herrschaft», sagt die Kunsthistorikerin. Sie weilt gerade in Rom, eingeladen als Gastwissenschaftlerin an die Bibliotheca Hertziana des Max-Planck-Instituts für Kunstgeschichte. In ihrem Forschungsprojekt untersucht Sabine Sommerer rund hundert Stühle – vorwiegend sakrale, darunter viele Bischofsthrone, aber auch nichtsakrale Sitzgelegenheiten und Königsstühle – von der Spätantike bis in die nachreformatorische Zeit um 1554. «Dass Throne Medien der Machtinszenierung sind, sieht man auch anhand der hohen Qualität der Ausstattung, der Materialität und der Art der Verzierung», erklärt die Kunsthistorikerin. Tiermotive beispielsweise verweisen auf den elitären Besitzer, oder Reiterreliefs können als Verweis auf den Herrschereinzug verstanden werden, den sogenannten Adventus.

Viele mittelalterliche Stühle sind nicht aus einem Guss entstanden, sondern aus verschiedenen Versatzstücken und wiederverwendeten Fragmenten, sogenannten Spolien, zusammengebaut. Sabine Sommerer erzählt von einem heterogenen Prachtstück in San Lorenzo in Lucina, Rom. Die Armlehnen dieses Bischofsstuhls von 1112 bestehen aus zwei zersägten Teilen eines eigentlich antiken Marmorreliefs mit Darstellungen von Weinranken und Kleintieren. Die Vögel, Schlangen und Reben passen zum liturgischen Kontext, in dem sie stehen. Die Rückenlehne des Sitzes ziert eine Inschrift, die besagt, dass die Reliquien des heiligen Märtyrers Laurentius – Feuerrost und Blutampullen – gesegnet und unter den Augen des Volkes vom alten Altar in einen neuen gelegt wurden. «Der Stuhl wird so zum Zeugen und Echtheitszertifikat», erklärt Sommerer. Er bezeugt mit der Inschrift, dass die Reliquien echt sind und die sogenannte Rekondierung, das Deponieren der Reliquie im Altar, wirklich stattgefunden hat.

Schottland besitzen

Die Kunsthistorikerin interessiert sich aber nicht nur für die Entstehung der jeweiligen Sitzgelegenheiten, sondern auch für deren Vita. Stühle gehen auch auf Reisen, etwa indem sie den Besitzer wechseln, als Monarchengeschenk zum Beispiel. Sie erhalten eine legendäre Herkunft oder einen heiligen Besitzer angedichtet, oder sie «durchleben» wechselhafte Biografien, indem sie etwa geraubt werden. Letzteres veranschaulicht der historische Coronation Chair des Britischen Königreichs, dessen Wirkungsmacht bis heute andauert.

Auch dieser ist von grosser Symbolkraft: In dem aus Eiche gefertigten Stuhl befindet sich unter der Sitzfläche in einem Hohlraum ein roter Sandstein, der Stone of Scone. Dabei handelt es sich um eine Kriegsbeute. Die Schotten brauchten den Stone of Scone jeweils für ihr Krönungsritual. Im Englisch-Schottischen Krieg stahl König Edward I. 1296 den Schotten den Stein und liess ihn in den für ihn angefertigten Krönungsstuhl, den Coronation Chair, einbauen. So wurde der Sieg über Schottland zum verkörperten Sinnbild: Der Monarch sitzt nicht nur auf dem Stuhl, sondern auch auf dem schottischen Krönungsstein, er besitzt Schottland auch im wörtlichen Sinne.

Erst 700 Jahre später, 1996, wurde der Stone of Scone Schottland zurückgegeben – allerdings unter der Auflage, den Stein jeweils für die nächste Krönung zur Verfügung zu stellen. «Spannend wird die Frage, wie das englische Königshaus bei der Krönung des nächsten Thronfolgers die Rückführung und Einsetzung des Stone of Scone inszenieren wird», meint Sommerer.

Doch wie steht es um die Inszenierung des Thronens in zeitgenössischen, nichtköniglichen Kreisen? In diktatorischen und autokratischen Staatsformen sind offensichtliche Machtinszenierungen auch heutzutage gang und gäbe. «Es muss nicht zwingend auf einem Stuhl gethront werden», sagt Sommerer und zieht zwei Fotos hervor. Sie zeigen einmal Putin, einmal Kim Jong-un hoch zu Ross. Wenn sich der russische Präsident oder der nordkoreanische Machthaber heroisch auf dem Pferd reitend ablichten lassen, so stellen sich die beiden in die Tradition der zahlreichen monumentalen Reiterstandbilder, mit denen sich die Herrscher seit der Antike darstellen liessen, erklärt die Forscherin und lacht: «In demokratisierten Gesellschaften würde eine solche Darstellung wohl für Irritation sorgen.» Man stelle sich die Bundesrätinnen und Bundesräte auf golden bezäumten Pferden galoppierend vor.

Die Stühle des Anstosses

Und welche Rolle spielen Sitze und Sitzgelegenheiten in Ländern, wo Machtsymbole weniger offensichtlich gezeigt werden, die Etikette weniger präzise ausgeschrieben ist? Tatsächlich sind seit der Französischen Revolution und in demokratisierten Gesellschaften eindeutige Machtinszenierungen seltener geworden, meint Sommerer. Gleichwohl können Sitzordnungen oder der Verstoss dagegen politische Sprengkraft in sich bergen, wie ein Vorfall aus der Zeit um 1968 zeigt.

eim ersten Konzert der Rolling Stones im Zürcher Hallenstadion 1967 widersetzte sich das junge Publikum der für sie vorgesehenen Sitzordnung. Kurz nach Konzertbeginn stand die Menge auf und stürmte nach vorne zum Bühnenrand. Sie rebellierte damit gegen die Regeln der Gesellschaft, die ihnen hier vorschrieben, dass sie beim Konzert ordentlich dazusitzen hätten. Nach dem Konzert ging es dann erst richtig los: Einige wenige begannen zu randalieren, am Schauplatz blieb nach dem Konzert ein riesiger Haufen wild durcheinandergeworfener Stühle zurück. Dieser Vorfall wurde von den Medien zur Initialzündung der Globuskrawalle stilisiert.

Unterdessen wird zwar selten mit Stühlen geworfen, Spuren von sozialen Ordnungen finden sich aber durchaus in unserem Alltag. Sommerer denkt nach und verweist auf den modernen Bürokomplex, wo der Sessel des CEO etwas luxuriöser ausgestattet ist, während die restliche Belegschaft im Grossraumbüro kaum noch einen eigenen Bürostuhl besitzt. Zuhause aber lässt sich hingegen durchaus wie eine Königin oder wie ein König thronen, wenn man sich etwa auf einem ausgewählten, schönen Vintagestuhl niederlässt – der ganz wie der historische Herrschaftsstuhl sein eigenes Vorleben mit sich bringt.

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