Navigation auf uzh.ch
Wenn Tobias Straumann spricht, ist es, als würde einem ein Kollege beim Feierabendbier kurz mal die verworrene Welt erklären. Im lockeren Tonfall redet er über komplexe Themen, erklärt souverän knifflige Zusammenhänge. Der Ökonom ist ein gefragter Experte, wenn es um Wirtschaft und Krisen geht. Nicht ohne Grund ist er im NZZ-Ranking einflussreicher Ökonomen auf Platz sechs vorgerückt – vor zwei Jahren war er noch auf Platz 27. Für das Verdienst, als profunder Kenner der Schweizer Finanz- und Wirtschaftsgeschichte so gekonnt zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu vermitteln, ist er mit dem Doron-Preis, der mit 100000 Franken dotiert ist, ausgezeichnet worden.
Auf dem kleinen runden Tisch in seinem Büro am Institut für Volkwirtschaftslehre liegt sein neues Buch, «Debt, Crisis, and the Rise of Hitler», das nun auf Deutsch unter dem Titel «1931 – Die Finanzkrise und Hitlers Aufstieg» vorliegt. Straumann beleuchtet in dem vielbeachteten Werk, das die «Financial Times» auf die Liste der besten Bücher des Jahres 2019 gesetzt hat, die verhängnisvolle Wechselwirkung von Wirtschaft und Politik, die nach der deutschen Finanzkrise von 1931 den Aufstieg der Nationalsozialisten begünstigte. Das Buch liest sich spannend wie ein Krimi. Straumann schmunzelt, er habe sich für den Aufbau des Textes an der Struktur antiker Tragödien orientiert.
Grundiert mit präzisem Quellenstudium folgt Straumann in seinem Buch den Protagonisten der Zeit, allen voran dem Reichskanzler Brüning, der sich in einer Sackgasse befand. Die Regierung der Weimarer Republik befand sich in einer Zwickmühle: Das hochverschuldete Deutschland war nach dem Ersten Weltkrieg von den Siegermächten zu unrealistischen Reparationszahlungen gezwungen worden und musste deshalb während einer tiefen Rezession massive Sparmassnahmen durchsetzen. Schliesslich kollabierte das ganze Finanz- und Währungssystem. Die Krise spielte den Nationalsozialisten in die Hände und begünstigte ihren Aufstieg.
Draussen scheint die Herbstsonne auf die Strasse. Straumann schiebt das Buch zur Seite und atmet durch und sagt: «In wirtschaftspolitischer Hinsicht kann man durchaus eine Lehre aus der historischen Finanzkrise ziehen: Es ist wichtig, dass internationale Übereinkommen realistisch und genug flexibel sind.» Starre, gegenseitige Verpflichtungen könnten ein schwaches Land in Krisenzeiten lahmlegen, sagt Straumann und verweist auf die Griechenland-Krise. Das Problem sei da die europäische Währungsunion. Im Gegensatz etwa zur europäischen Sicherheitspolitik, die anpassungsfähig gestaltet ist, greife diese stark in die Souveränität der Staaten ein. Mit der Schaffung des Euro wurde den Mitgliedstaaten de facto die eigene Geld- und Finanzpolitik entzogen, erklärt der Wirtschaftshistoriker. «Dabei wäre diese ein wichtiges Instrument für die Krisenbewältigung, weil ein Land gegebenenfalls die eigene Währung abwerten und die Geldpolitik auf die Bedürfnisse der eigenen Wirtschaft zuschneiden kann.» Mit dem Eintritt in die Währungsunion fällt diese Möglichkeit weg. Im Falle Griechenlands konnte der Bankrott nach längerem Hadern durch das Einschreiten der Europäischen Zentralbank schliesslich abgewendet werden.
Straumann rückt den Stuhl zurecht. Aufgewachsen ist er in Oberrohrdorf, unweit von Baden. Es sei eine unaufgeregte, mittelständische Umgebung gewesen, viele Kinder im Garten und auf der Strasse. Er kommt aus einer Lehrerfamilie, in der Verwandtschaft gibt es viele Primar- und Sekundarlehrer, auch seine Mutter sei Lehrerin gewesen. Der Vater, Norbert Straumann, war Physikprofessor an der UZH. Das Zahlenfaible habe er wohl von ihm. Als junger Mann hatte er sich dann doch gegen ein Mathe-Studium entschieden, zu nah beim Vater, fand er. Mit der Finanz- und Wirtschaftsgeschichte haben sich die Zahlen nun wieder in seinen Alltag zurückgeschlichen.
Straumann wirkt bescheiden und nonchalant, wie er so unaufgeregt spricht. Wenn man ihm als Wirtschafts- und Krisenexperten in den Medien begegnet, ist es nicht leicht, ihn politisch einzuordnen, er lässt sich weder links noch rechts verorten. Straumann nickt. Das sei ihm ein grosses Anliegen. «Als Wissenschaftler darf man sich nicht an ideologischen Lagern orientieren», sagt er, «jedes Thema muss für sich reflektiert werden.» Und man muss seine Meinung ändern dürfen – eine Grundvoraussetzung für Forschung und Wissenschaft. «Die Realität ist komplex und hält keine einfachen Antworten bereit. Das muss man aushalten können», sagt Straumann und lächelt.
Er kann diese verworrene Welt nachvollziehbar erklären – das hängt wohl auch mit seinem Hintergrund als Journalist zusammen. Nach der Dissertation – Straumann hatte Geschichte und Soziologie studiert und über die Entstehung der Laborforschung in der Basler Chemie promoviert – hatte er erstmal genug von der akademischen Arbeit und stieg in den Journalismus ein. Bei der «Zuger Presse» landete er bei der Wirtschaft, bald schrieb er für den «Tages-Anzeiger». Straumann lehnt sich im Stuhl zurück und erzählt. Als Wirtschaftsredaktor habe er immer wieder Experten gesucht, die die wirtschaftlichen Zusammenhänge historisch gestützt erklären könnten. Doch er wurde nicht fündig. «In den 1990ern beschäftigten sich die Historiker eher mit kulturgeschichtlichen Themen», erklärt Straumann, «während sich die Ökonomen wenig für Geschichte interessierten. Wirtschaftsgeschichte war ein Orchideenfach.»
Doch gerade wenn es um Wirtschaftskrisen geht, ist die Beziehung zwischen Politik und Wirtschaft besonders wichtig. Da muss man sowohl die wirtschaftlichen Vorgänge verstehen wie auch Quellen studieren können. Straumann lacht. Er habe nicht lange nachgedacht – «wenn sonst niemand da ist, spring eben ich in die Lücke». Er wechselte die Seite und ging zurück an die Universität, um sich auf Wirtschaftsgeschichte zu spezialisieren.
Als er mit seiner Frau, die Klavierlehrerin und Jazzpianistin ist, 2000 für ein Jahr nach Berkeley ging, war das Feuer entfacht. An der University of California traf er die Grössen der Wirtschaftsgeschichte: Barry Eichengreen, Brad DeLong, Christina Romer – die Namen kann man auf den Buchrücken in Straumanns Wandgestell lesen. Das sei wie ein Schub gewesen – intensiv und anregend. «Wobei ich mich als fachfremder Historiker bei den schlauen Ökonomen ziemlich ins Zeug legen musste, um mitzuhalten», erzählt Straumann. Er habe enorm profitiert, betont er. Noch heute hört man ihm seine Leidenschaft für das Fach an.
In Berkeley begann er mit seiner Habilitationsschrift über das Wechselkursregime kleiner europäischer Staaten im 20. Jahrhundert, die er 2007 in Zürich abschloss. Seit 2014 ist der Vater von zwei Söhnen im Alter von 13 und 18 Jahren Titularprofessor für Geschichte der Neuzeit an der UZH und finanziert sich mit diversen Lehraufträgen sowohl an der Philosophischen wie an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät. Zudem leitet er seit Frühling 2019 den MAS in Applied History an der Universität Zürich.
Und was macht der Wirtschaftshistoriker nun mit dem Doron-Preisgeld? «Berge von Protokollen durchackern», sagt er und schmunzelt. In seinem nächsten Buch will Straumann die Umstände des deutschen Schuldenbergs nach dem Zweiten Weltkrieg untersuchen. Da liegen noch viele Quellen brach, die aufgearbeitet werden müssen. Genau das Terrain, das Straumann liebt und das ihm liegt.