Navigation auf uzh.ch
Er war eine Art islamischer Leonardo da Vinci des Mittelalters: Ibn Sina (980 bis 1037) war Philosoph, Arzt, Dichter, Jurist, Mathematiker, Astronom, Alchimist, Musiktheoretiker und Politiker in einem. Im Westen ist der persische Universalgelehrte besser bekannt unter seinem latinisierten Namen Avicenna. Der Wissenschaftler und Denker aus Buchara, das heute zu Usbekistan gehört, steht im Mittelpunkt eines neuen, rund 600-seitigen Bandes zur Philosophie in der islamischen Welt, den der UZH-Islamwissenschaftler Ulrich Rudolph herausgegeben hat.
Das Buch ist Teil der Reihe «Grundriss der Geschichte der Philosophie». Das monumentale Buchprojekt wurde 1983 gestartet und hat sich zum Ziel gesetzt, in über 40 geplanten Bänden ein detailliertes und umfassendes Bild der Entwicklung des philosophischen Denkens in verschiedenen Epochen und in unterschiedlichen Kulturräumen zu zeichnen – von den Anfängen in der Antike bis in die Gegenwart. In einem früheren Band der Publikationsreihe, die er herausgegeben hat, hat sich Ulrich Rudolph bereits mit philosophiegeschichtlichen Entwicklungen im 8. bis 10. Jahrhundert auseinandergesetzt. Nun entwickelt er gemeinsam mit einem Team von Autorinnen und Autoren einen frischen Blick auf das 11. und 12. Jahrhundert. Geplant sind dazu zwei Bände.
Im ersten, nun erschienen Buch räumt Ulrich Rudolph Avicenna einen neuen Platz in der Philosophiegeschichte der islamischen Welt ein. «Der Gelehrte aus Buchara setzte einen Paradigmenwechsel in Gang», sagt der UZH-Forscher, «mit Avicenna beginnt eine neue Zeit in der Geschichte des Denkens im islamischen Raum – Begriffe bekommen eine neue Bedeutung, die Diskurse eine neue Richtung.» Die revolutionäre Bedeutung des persischen Gelehrten für die Philosophiegeschichte in der islamischen Welt so deutlich herauszuarbeiten, ist eines der Verdienste des Buchs.
Der Philosoph Reinhard Koselleck hat für eine solche Periode des Umbruchs und der gedanklichen Neuordnung in den 1970er-Jahren den Begriff «Sattelzeit» geprägt. Koselleck hatte damals das späte 18. und das frühe 19. Jahrhundert vor Augen. Damals gaben Philosophen wie Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel dem Denken ganz neue Impulse. Eine solche Sattelzeit sieht Ulrich Rudolph nun auch im 11. Jahrhundert, in dem Avicenna das Philosophieren im islamischen Raum revolutionierte und nicht zuletzt auch wichtige Denker des christlichen Mittalters, etwa Albertus Magnus oder Thomas von Aquin, beeinflusste.
Avicenna verband Gedanken der antiken Philosophie mit der islamischen Theologie und schuf damit ein wirkungsmächtiges philosophisches Weltbild. Seine Vorgänger stützten sich vor allem auf aus der Antike überlieferte philosophische Konzepte und beschäftigten sich mit Logik, Ethik und Metaphysik. Für sie prägend war vor allem Aristoteles – der griechische Philosoph war die massgebliche Autorität. So liess etwa der einflussreiche, aus Bagdad stammende Denker al-Kindi (800 bis 873) Aristoteles’ Schriften genauso wie die Werke Platons ins Arabische übersetzen und setzte sich intensiv mit ihnen auseinander. Auch Avicenna berief sich auf den Philosophenkönig aus dem antiken Griechenland. «Er wollte Aristoteles aber nicht nur verstehen, sondern dessen Lehre überbieten und in eine neue Synthese überführen», sagt Islamwissenschaftler Ulrich Rudolph.
So verband Avicenna Einsichten der Philosophie mit Erkenntnissen der Wissenschaften seiner Zeit – etwa aus Medizin und Astronomie. Aber nicht nur das: der persische Gelehrte integrierte auch Ideen und Vorstellungen der islamischen Theologie in sein Denkgebäude. Letztlich thront Gott über seinem ganzen philosophischen System. Trotz der göttlichen Allmacht gesteht dieses System den einzelnen Menschen einen freien Willen zu. «Gott ist nach Avicenna zwar für die universalen Prinzipien zuständig, nicht aber für jedes kleine Ereignis auf Erden», sagt Ulrich Rudolph. Und so errichtete Ibn Sina alias Avicenna vor über tausend Jahren ein innovatives und integratives philosophisches Denkgebäude, in dem sowohl die Idee von Gott als auch die der Vernunft Platz hatte.
Diese Verbindung machte sein Denken äusserst wirkungsmächtig. In den folgenden 500 Jahren war Avicenna jedenfalls der wichtigste Philosoph im islamischen Raum. «Man konnte nicht philosophieren, ohne sich auf ihn zu beziehen», sagt Ulrich Rudolph, «er war das Mass aller Dinge.» Zwar stiess seine Philosophie in den folgenden Jahrhunderten auch auf Kritik und zuweilen auf erbitterte Ablehnung – auch diese Positionen werden im neuen Band breit erörtert. Nichtsdestotrotz blieb Avicennas Denken lange Zeit im Mittelpunkt der philosophischen Debatten in der islamischen Welt. Dies macht der neue Band aus der Reihe «Grundriss der Geschichte der Philosophie» deutlich: Er stellt Philosophiegeschichte nicht einfach dar, sondern macht sie auf eine neue Art lesbar.