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Es gibt Menschen, die fühlen den eigenen Herzschlag besonders gut. Diese Fähigkeit zur Wahrnehmung variiert von Person zu Person und ist eine Facette der Interoception, sozusagen unseres sechsten Sinns über die Vorgänge und Zustände im Körper. Laufend generieren Sinneszellen verteilt über den Organismus Informationen über die Bewegungen der Organe, den Druck auf die Gefässe, die Orientierung im Raum und eben den Herzschlag. Millionen von Impulsen gelangen kontinuierlich zum Gehirn und generieren ein Gefühl für den Körper, dessen wir uns nur teilweise bewusst sind.
Eine zunehmende Zahl von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern vertritt heute die Ansicht, dass diese internen Körpersignale die Voraussetzung für die Entwicklung des IchGefühls und des Selbstbewusstseins sind, die Menschen auszeichnet. «Das Erleben unseres Bewusstseins hängt zentral von den sensorischen Körpersignalen ab», sagt Bigna Lenggenhager, Professorin für Kognitive Neuropsychologie an der UZH, die das körperliche Selbst und die Entwicklung der Selbstwahrnehmung erforscht.
Ein Pionier auf diesem Gebiet der Verkörperung des Bewusstseins ist der amerikanische Neurowissenschaftler Antonio Damasio. In den 1990er Jahren hat er mit seinem Buch «Descartes’ Irrtum» eine evolutionsbiologische Theorie des Ich-Bewusstseins hergeleitet, die im Widerspruch zu den Thesen des Philosophen und Mathematikers René Descartes aus dem 16. Jahrhundert steht. Dieser hatte den Körper und die Seele als verschiedene Entitäten betrachtet, wobei die Zirbeldrüse – ein kleines Organ mitten im Gehirn – zwischen den beiden vermittelt.
Damasio braucht diesen Dualismus zwischen Körper und Seele nicht mehr. Er legte dar, wie die Informationen zu den biochemischen und physischen Körperfunktionen im Lauf der Entwicklung der Organismen immer stärker integriert wurden. Sie bildeten schliesslich den Hirnstamm, wo ein unbewusstes und rudimentäres Proto-Selbst generiert wurde. In den nachfolgenden Jahrmillionen entwickelten sich in unserer Gattung Homo höhere kognitive Funktionen im Kortex über dem Hirnstamm, mit dem wir das Verhalten reflektieren und beeinflussen. Das Ich-Bewusstsein trat hervor, zusammen mit der Sprache und dem Gedächtnis. Diese Fähigkeiten sind in verschiedenen, miteinander vernetzten Hirnregionen lokalisiert, die sensorischen Inputs des Körpers werden darauf projiziert. «Die Integration der Signale führt zu einem kohärenten Ich-Gefühl», sagt Lenggenhager.
Die Neuropsychologin konzentriert sich in ihrer Forschung darauf, wie sich veränderte Körperwahrnehmungen auf das Erleben des Ich auswirken. Einerseits möchte die Forscherin damit das Ich-Bewusstsein besser verstehen, andererseits eröffnen sich damit für die Zukunft auch neue Wege zur Behandlung von Menschen mit Körperschemastörungen. Betroffene nehmen bei diesen Krankheiten Teile ihres Körpers verzerrt oder entstellt wahr, eine extreme Form ist die Xenomelie, bei der Glieder als fremd erlebt und nicht akzeptiert werden.
Körper und Bewusstseinszustände hängen offenbar viel enger zusammen, als noch vor wenigen Jahren angenommen wurde. Äussere Einflüsse wie das soziale Umfeld und die Entwicklung in der Familie bleiben natürlich wichtig. Ebenso können psychoaktive Substanzen wie Drogen die biochemische Kommunikation zwischen den Hirnzellen und arealen verändern und die Selbstwahrnehmung stören.
Als Objekt der Wahrnehmung liefert der Körper aber neue Erklärungen und Theorien für lange gehegte Rätsel. Zum Beispiel für das Gefühl der Kontinuität der persönlichen Identität, die Bewusstseinsforscher und -forscherinnen umtreibt. Tag für Tag wachen wir auf und empfinden uns ein Leben lang als dieselbe Person. Spekuliert wird, dass ununterbrochene Organsignale wie der Herzschlag Grundlage des Ich-Gefühls sein könnten. Das Herz wäre dann nicht nur der Motor des Körpers, der Sauerstoff in die Gefässe pumpt, sondern Hort unserer lebenslangen, bewussten Identität.