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Literaturwissenschaft

Geräuchte Standpauken

Berühmt wurde Asger Jorn (1914–1973) mit wilden expressionistischen Gemälden voll wunderlicher Wesen. Der dänische Künstler hat aber auch Bücher zu Kunstwerken gemacht und subversive Sprachtheorien inszeniert. Der Nordist Klaus Müller-Wille untersucht sie.
Simona Ryser
Asger Jorn
«Bildkunst und Schrift sind das gleiche. Ein Bild ist geschrieben und Schrift ist Bild», schreibt Asger Jorn im Essay «Prophetische Harfen» von 1944.

 

Mal sind es fantastische Tiere, wilde Wesen, dunkle Monster, mal grosse, leuchtende Gemälde, wütende Pinselstriche, dann sind es riesige Keramikplastiken, dynamische
Tuschzeichnungen, kleine Radierungen, Illustrationen, Holzschnitte, Grafiken. Er muss ein Berserker gewesen sein, der dänische Künstler Asger Jorn (1914–1973). Sein Œuvre umfasst eine schier unermessliche Vielfalt an künstlerischen Formen. Neben den umfangreichen bildnerischen Arbeiten hat er auch ein immenses schriftstellerisches Werk mit Essays, Manifesten, Artikeln und Büchern geschaffen.

Bisher wurde Asger Jorn vor allem als Maler von expressionistischen Gemälden voller wunderlicher Figuren wahrgenommen, die oft an die nordische Mythologie erinnern. Die ganze Bandbreite seiner Kunst samt seinen kunstästhetischen Reflexionen aber ist längst nicht entdeckt. Klaus Müller-Wille will Abhilfe schaffen. Es ist ein Herzensprojekt des Professors für Nordische Philologie. In einer breit angelegten Studie will der Forscher, der im Nebenfach Kunstgeschichte studiert hat, den schillernden Künstler Jorn in seiner Vielfalt bekannt machen. Noch immer sei er überwältigt von der schieren Materialfülle, wenn er wieder in Dänemarks Museen und Archiven in den Jorn’schen Kosmos eintaucht, sagt Müller-Wille.

Aktionistische Störungen

Angetan ist Klaus Müller-Wille vor allem von Jorns ausgeklügelter Buchkunst, wo sich die kunstästhetischen und sprachtheoretischen Reflexionen des Künstlers zeigen. Tatsächlich lösen Bilder seiner Bücher ein Kitzeln in den Fingern aus. Wie gern würde man sie anfassen! Es muss ein haptisches Erlebnis sein. Der Umschlag von «Fin de Copenhague» – Asger Jorn hat das Buch 1957 gemeinsam mit dem Kollegen Guy Debord innerhalb von 24 Stunden hergestellt – besteht aus einem tiefen Schriftrelief. In den mit Filz unterlegten Coverkarton sind Anzeigen des Warenhauses Illums eingestanzt, die in einer dänischen Tageszeitung erschienen sind. Das Buch entlarvt und inszeniert die Vermarktung des touristischen Kopenhagen. Die Produktion des Buches war ein Kunstexperiment. Jorn und Debord, die später die Künstlergruppe «Situationistische Internationale» gründeten, haben einen grossen Stapel Zeitungen und Magazine zusammengetragen und daraus 32 Collagen hergestellt, die aus dänischen, englischen, französischen und deutschen Inseraten, Werbeemblemen, Comic-Ausschnitten und Reklamebildern bestehen und sie mit Farb­spuren, -spritzern und -klecksen versehen.

Dabei bedienten sie sich bereits verwendeter Wörter, sie recycelten diese gewissermassen, fügten gebrauchte Textversatzstücke, Buchstaben, vorgefundendes Material zusammen und machten so neue Bezüge sichtbar. Das sogenannte Détournement, was etwa mit Zweckentfremdung, Verdrehung, auch Entwendung oder Umkodierung übersetzt werden kann, war ein beliebtes Verfahren der Situationistischen Internationale. Diese Gruppierung linker, avantgardistischer Künstlerrebellen – und Vorläufer der 68er-Bewegung – richtete sich mit überraschenden öffentlichen Interventionen, Strassenaktionen, politischen Flyern, Graffitis und anderen aktionistischen Störungen gegen das Bürgertum und den Kapitalismus.

Doppelseite aus dem Buch «Mémoires» von Asger Jorn und Guy Debord
Subversive Buchkunst: Doppelseite aus dem Buch «Mémoires» von Asger Jorn und Guy Debord, 1959.

Dinghafte Schrift

Asger Jorn war ein Mensch, der viele Fäden zog. Heute würde man es Networking nennen, sagt Klaus Müller-Wille. Der Künstler war engagiert und sozial aktiv, brachte Kulturschaffende verschiedener Länder zusammen. Müller-Wille hat in den Archiven wunderbare Korrespondenzen gefunden. In allen möglichen Sprachen schrieb Jorn Briefe – neben Dänisch und Englisch auch in einem abenteuerlichen Italienisch und einem archaischen Deutsch.

Jorns Faible für die Buchkunst war schon früh sichtbar. Klaus Müller-Wille zeigt wunderschöne Illustrationen, die der Künstler zu Gedichten von Genja Katz Rajchmann angefertigt hatte, schwebende Farbkreise und -flächen über, neben und im Text, erschienen 1939 unter dem Titel «Pigen i Ilden» (Das Mädchen im Feuer). «Bildkunst und Schrift sind das gleiche. Ein Bild ist geschrieben, und Schrift ist Bild», schreibt Asger Jorn im Essay «Prophetische Harfen» von 1944. Für Jorn sei Schrift dinghaft, erklärt Müller-Wille, darin besteht der Kern seiner sprachtheoretischen Reflexion, die so spannend ist. Schrift besteht aus Wortdingen. Die Sinnlichkeit des Textes, also auch die Typografie, das Papier, das Layout, all das macht das Lesen aus und beeinflusst die Bedeutung. Die Materialität des Buches hat eine Eigendynamik, genauso ist es beim Malen, wo die Farben nicht immer das tun, was der Künstler geplant hat, sagt Müller-Wille.

Einflussreich war Asger Jorn auch bei der Gestaltung der Bulletins der Cobra-Gruppe. Klaus Müller-Wille hatte Jorn entdeckt, als er den Auftrag erhielt, an der Université de Strasbourg einen
Vortrag über die Künstlerbewegung zu halten – Cobra ist ein Akronym der Städte Copenhagen, Brüssel und Amsterdam. Die Gruppe um Asger Jorn und den Schriftsteller Christian Dotremont versuchte, kleinere Hauptstädte als Avantgardezentren zu inszenieren, und machte sich stark für eine natürliche, spontane, primitive Kunst.

Da sei ihm Asger Jorn aufgefallen, sagt Müller-Wille. Er sei überrascht gewesen vom intellektuellen Impact, der in diesem reichen Werk des Künstlers zum Vorschein kam, den er bis dahin wie die meisten nur als Maler gekannt hatte. Besonders fasziniert haben ihn Jorns ästhetische Schriften. In «Heil und Zufall» etwa wendet der Künstler das Collageverfahren auf seine eigenen Texte an, indem er diese zerschneidet und neu zusammenklebt und so seine Reflexionen und Argumentationen inszeniert und dekonstruiert.

Kalbskopfthesen

Der Philologe verweist schmunzelnd auf ein weiteres Buch mit dem vieldeutigen Titel: «La langue verte et la cuite», das Jorn mit Noël Arnaud 1968 herausgebracht hat. La Langue meint sowohl «die Sprache» wie auch «die Zunge». Tatsächlich wimmelt es in Jorns Buch von eingefärbten, herausgestreckten Zungen, darunter etwa das berühmte Bild von Albert Einstein, aber auch anonyme Zungenfotos, Zungengemälde und zahlreiche Abbildungen von Zungenmonstern, die in die Aussenfassaden gotischer Kirchen gemeisselt sind. Das Buch ist eine Persiflage auf den Strukturalismus. Der Titel verrät eine Anspielung auf die «Mythologica I: Le cru et le cuit», («Das Rohe und das Gekochte»), mittlerweile ein wissenschaftlicher Klassiker des französischen Strukturalisten und Anthropologen Claude Lévi-Strauss. Asger Jorns Buch versammelt eine Reihe von sprachspielerischen und sprachtheoretischen Reflexionen, serviert in Form von kulinarischen Gängen – deshalb auch der Untertitel: Etude gastrophonique sur la marmythologie musiculinaire.

Jorn kritisiert darin den Strukturalismus, der die Sprache als abstraktes, geschlossenes Zeichensystem begreife und dabei die Körperlichkeit und Sinnlichkeit der Schrift verdränge. Seine Textsammlung ist gespickt mit Wortspielereien und -verdrehungen. Schon die Lektüre des Inhaltsverzeichnisses ist ein Genuss. Da wird zum Hors d’œuvre zum Beispiel eine Sermon fumé – eine geräuchte Standpauke – aufgetragen oder eine Pathétique surgelée – tiefgefrorenes Pathos. Danach wird etwa eine Thèse de veau à la vinaigrette, eine Kalbs­kopf­these serviert und zum Nachtisch eine Tarte de rigolade, ein Ohrfeigenspasskuchen. Da bekommt man Appetit auf mehr. Zum Glück wird Klaus Müller-Willes Forschungsprojekt, das in einer Monografie zusammengefasst erscheinen soll, bald mehr Jorn’sche Seh- und Lesenahrung auftischen. Wohl bekomms!

 

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