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Der Arzt der Zukunft sitzt vor dem Bildschirm. Er sucht nach den spezifischen Symptomen, die ihm seine Patientin in der Sprechstunde beschrieben hat. Er tut dies nicht auf den zahllosen Ratgeberseiten von «Doktor Google», sondern vielmehr im weltweiten medizinischen Datenwarenhaus – einer umfassenden Sammlung anonymisierter Patientendaten und ärztlicher Erfahrungsberichte. Künstliche Intelligenz hat diese Daten normiert und kategorisiert und sorgt dafür, dass Ärzte und Ärztinnen aus jeder Ecke der Welt sie mit einer einfachen Suche abrufen können.
Zurzeit ist das alles noch Science Fiction. KI unterstützt die Medizin zwar heute schon, doch die Hilfe beschränkt sich auf ein paar wenige Bereiche, meist im Spital. In der Mammografie etwa übernehmen KI-basierte Computerprogramme die Analyse der Gewebestruktur – eine willkommene Entlastung für Radiologinnen und Radiologen, die jährlich 10000 Röntgenbilder oder mehr auswerten müssen. Aber nicht nur das: KI arbeitet auch schneller und meist genauer als der Mensch. «Und KI wird nicht müde, sie braucht keinen Schlaf», sagt Michael Krauthammer. Er ist Professor für Medizininformatik am Universitätsspital und forscht auf dem Gebiet von KI im Gesundheitswesen.
Das «Data Warehouse», der Austausch medizinischer Daten weltweit, ist Krauthammers grosse Vision. Um die richtige Diagnose zu stellen und die richtige Therapie anzuordnen, müssen Ärzte Entscheide fällen – personalisierte Entscheide, die genau jenem Patienten zugutekommen, der vor ihnen steht oder liegt. Handelt es sich nicht um Routinefälle, ist der Arzt auf Spezialwissen angewiesen. Also muss er klinische Studien lesen; das ist zeitaufwändig. Und gerade zu älteren Menschen und ihren Krankheiten gibt es verhältnismässig wenig Material. Dabei leben wir bekanntlich immer länger, womit auch das durchschnittliche Patientenalter steigt.
«Wir sollten die Erkenntnisse aus klinischen Studien durch medizinische Alltagsdaten ergänzen», sagt Michael Krauthammer. Der Horizont des Arztes lässt sich so von den paar hundert Patienten, die er in seiner Praxis sieht, auf Hunderttausende von Patienten erweitern. Das ist komplex und lässt sich einzig mit KI bewerkstelligen; nur sie kann die Sammlung anonymisierter Patientendaten erstellen und verwalten, die das digitale medizinische Warenhaus dereinst füllen soll.
Wie viele Patienten haben bei einem bestimmten Krankheitsverlauf Medikament A, wie viele Medikament B eingenommen? Welche der beiden Therapien war erfolgreicher? Unterliegt die bessere Therapie gewissen Einschränkungen? Welches sind ihre Kontraindikationen? Solche Fragen liessen sich mit einer entsprechenden Suche im «Data Warehouse» rasch und unkompliziert beantworten. Es würde Ärzten und Ärztinnen von Asien bis Afrika die Entscheidungsfindung im medizinischen Alltag erleichtern.
Der Weg dahin ist allerdings noch weit. «Bis jetzt haben wir erst Babyschritte gemacht», sagt Krauthammer. Damit KI die Daten verarbeiten kann, müssen sie maschinenlesbar sein – heutige Krankengeschichten und Spitalberichte sind es nicht. Dann gilt es, Algorithmen zu entwickeln und zu trainieren, die in der Lage sind, Patientendaten zu vergleichen und zuzuordnen. Dies wiederum funktioniert nur, wenn die Daten, die sie verwenden, terminologisch und technologisch harmonisiert sind. Die fünf Universitätsspitäler der Schweiz haben den Anfang gemacht und mit dem «Swiss Personalized Health Network» eine erste harmonisierte Datenbank geschaffen – als winzige Vorstufe einer globalen Datenharmonisierung.
Michael Krauthammer ist überzeugt: Von KI können sowohl der Mediziner als auch sein Kunde profitieren. Der Hausarzt habe auf einfache Art Zugang zu Expertenwissen, der Patient komme in den Genuss einer konstanteren und damit besseren medizinischen Qualität. «Man darf das Ganze aber nicht verklären», meint Krauthammer. Ein Risiko etwa bestehe darin, dass sich Algorithmen auf gewisse Krankheitsbilder einstellten und keine Sonderfälle mehr erkennen könnten. «Es wird mit KI zweifelsohne neue Fehler geben.»
Die grösste Hürde bei der Anwendung von KI in der Medizin ist allerdings nicht technischer, sondern rechtlicher Natur. Kerstin Noëlle Vokinger hat sowohl Medizin als auch Jurisprudenz studiert; an der rechtswissenschaftlichen Fakultät der UZH hat sie einen Lehrstuhl für Gesundheitsrecht und Digitalisierung inne. Sie beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie und unter welchen Bedingungen KI-basierte Systeme in der Medizin reguliert werden sollen. Denn wie so oft beim digitalen Fortschritt hinkt auch hier die Gesetzgebung weit hinter der rasanten Entwicklung her.
Der Gesetzgeber teilt medizinische Hilfsmittel grundsätzlich in zwei Kategorien ein. Erstens in die Arzneimittel, die bekanntlich einer überaus rigiden Zulassungspraxis unterliegen. Zweitens in die sogenannten Medizinprodukte, die von Wundpflaster und Spitalbett bis zu Knieprothese und Herzschrittmacher reichen; ihr Zulassungsverfahren ist weit weniger streng.
Auch KI-basierte Software gilt als Medizinprodukt. «Dies, obwohl ein Softwarefehler potenziell ebenso schlimme Konsequenzen haben kann wie die Nebenwirkungen gewisser Medikamente», sagt Kerstin Noëlle Vokinger.
Wie also medizinische KI regulieren? «Die heutige Gesetzgebung stösst da und dort an ihre Grenzen», meint Vokinger und nennt ein Beispiel: In den USA wurde unlängst eine Diagnostiksoftware für Leber- und Lungenkrebs aufgrund ihrer Vergleichbarkeit mit anderen Diagnosemethoden zugelassen – die amerikanische Gesetzgebung erlaubt dies. In ihrer Studie zeigt Vokinger auf, dass sich die dieserart zugelassene Software in Teilen auf medizinische Erkenntnisse stützte, die bis in die siebziger Jahre des letzten Jahrhunderts zurückreichten und längst überholt waren. «Solche Zulassungskriterien sind inadäquat», sagt Vokinger. «Da braucht es andere regulatorische Überlegungen.»
Regulatory Sciences nennt sich das noch junge Forschungsgebiet, das sich mit Fragen der datenbasierten Regulierung von KI befasst. Diese Regulierung sei eine Gratwanderung, sagt Vokinger. Denn einerseits ist grösstmögliche Patientensicherheit gefragt, andererseits gilt es, den technologischen Fortschritt nicht zu bremsen. Kommt hinzu, dass moderne KI-basierte Software vermehrt auch selbstlernend ist, sich die darin verwendeten Algorithmen also laufend ändern. Ein Zulassungsverfahren, das Medizinprodukten einmalig und für alle Zukunft grünes Licht gibt, greife da je nachdem zu kurz. «Unsere Gesetzgebung», so Vokinger, «geht davon aus, dass ärztliche Arbeit von Menschen geleistet wird, nicht von Maschinen. Also müssen wir den rechtlichen Rahmen neu definieren und die Gesetzgebung den neuen Entwicklungen anpassen.»
Für Kerstin Noëlle Vokinger ist klar, dass sich die Anstrengung lohnt. Wo KI dem Patienten diene, sollten wir regulatorische Lösungen für ihren Einsatz finden, so ihre Überzeugung – sei es bei Radiologieprogrammen oder im Hinblick auf eine globale Medizindatenbank, wie Michael Krauthammer sie voraussagt. Letzte Frage an die Medinzinjuristin: Wird KI einst den Arzt ersetzen? «Nein», sagt Vokinger. «KI wird den Arzt in Zukunft wahrscheinlich zunehmend unterstützen, ablösen wird sie ihn aber nicht. Der Arzt wird seine Patientinnen und Patienten weiterhin persönlich beraten. Denn die menschliche Sozialkompetenz ist durch KI kaum ersetzbar.»