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15 Prozent der Schweizer Bevölkerung stehen unter einer mittleren oder hohen psychischen Belastung – so heisst es im aktuellen Gesundheitsbericht von 2019, herausgegeben vom Bundesamt für Statistik. Für Birgit Watzke vom Psychologischen Institut der UZH ist das «per se keine ganz so alarmierende Zahl», schliesslich entwickelt sich nicht aus jeder kurz- oder mittelfristigen Stresssituation eine psychische Erkrankung.
Bei der Professorin für Klinische Psychologie klingeln die Alarmglocken später, nämlich dann, wenn die Belastung zu physischen und/oder psychischen Beeinträchtigungen führt. «Genau hier liegt ein strukturelles Problem in unserem Gesundheitssystem. Denn diagnostische Abklärungsgespräche finden von Seiten der Grundversorger, also durch Hausärztinnen und Hausärzte, zu selten und oft zu spät statt. Und selbst wenn eine entsprechende Diagnose vorliegt, ist die Behandlung oft unzureichend und nicht State of the Art.»
Seit Jahren untersucht Watzke die Versorgungssituation bei den häufigsten psychischen Krankheiten: Depressionen, Suchterkrankungen, somatoforme Erkrankungen und Angststörungen. Ihr Resümee ist alles andere als positiv. Häufig treten Versorgungslücken auf, das heisst, Personen in belastenden Lebensumständen kommen gar nicht erst ins Therapiesystem, etwa weil der Hausarzt eine Erkrankung nicht frühzeitig erkennt, weil er die Notwendigkeit einer fachgerechten Behandlung nicht sieht oder weil die Wartezeiten bei Spezialisten extrem lang sind.
Oder es kommt zu einer Fehlversorgung, weil man betroffenen Personen vorschnell Psychopharmaka statt Psychotherapie verschreibt. «Studien zeigen, dass nur eine von drei in der Schweiz lebenden Personen mit einer psychischen Störung fachgerecht behandelt wird.» Dass dies zu weitreichenden Gesundheitsbeeinträchtigungen, chronischen Krankheitsverläufen und hohen Kosten für das Gesundheitssystem führt, ist hinreichend bekannt.
Dieser für alle Beteiligten unbefriedigenden Versorgungssituation begegnet Birgit Watzke auf zwei Ebenen, als Wissenschaftlerin und als praktisch arbeitende Psychotherapeutin. Als Forscherin sucht Watzke nach neuen Wegen, das klassische psychotherapeutische Angebot zu flexibilisieren, zum Beispiel indem man Patienten möglichst massgeschneiderte Therapieangebote macht; sie prüft, etwa in Wirksamkeitsstudien, welche innovativen, niederschwelligen Therapiemöglichkeiten erfolgversprechend sind, beispielsweise Onlinetherapieverfahren, telefonische Psychotherapie oder Selbsthilfeformate; sie testet Modelle für eine effizientere Vernetzung von Primär- und Sekundärversorgern, also von Hausärztinnen und Hausärzten und weiterbehandelnden Therapeuten. Als Psychologin erprobt Watzke im Gespräch mit Patientinnen und Patienten neue Beratungsansätze oder testet Methoden zur Selbsthilfe.
Ihrem Lehrstuhl angegliedert ist die Praxisstelle Psychotherapie, bei der sich Menschen mit psychischen Problemen zur Diagnostik, Abklärung, Beratung und Behandlung selbständig melden können. Ein besonders niederschwelliges Angebot ist die wöchentliche Walk-in-Sprechstunde, bei der man ohne Anmeldung für ein Erstgespräch vorbeikommen und seine Situation schildern kann.
Seit November 2019 ist Birgit Watzkes Lehrstuhl noch die Fachstelle Psychische Gesundheit angeschlossen. «Die Fachstelle richtet sich konkret an Hausärztinnen und Hausärzte und dient ihnen in erster Linie als Entlastung bei der Behandlung von Patienten mit psychischen Erkrankungen. Die Hausärzte haben zum Beispiel die Möglichkeit, ihre Patienten zum diagnostischen Abklärungsgespräch zu uns zu schicken.» Integrierte Versorgung und «collaborate care», das sind für Birgit Watzke die Schlüsselbegriffe in ihrem Gebiet.
Watzke, die sich während ihres Studiums an der Universität Bielefeld besonders für Neuropsychologie interessierte und erst später zur Klinischen Psychologie fand, schätzt die «zwei verschiedenen Modi», die ihren Beruf definieren: erstens die konzeptuelle Erarbeitung von Forschungsfragen sowie deren Umsetzung in Probandenstudien und zweitens die therapeutische Arbeit mit Patienten. Ihr «gemischtes Profil» erleichtert es Birgit Watzke, an der Schwelle zwischen Wissenschaft und Praxis zu arbeiten.
Diese Kluft zu überwinden, also Forschungswissen in der Realität zu implementieren, umgekehrt aber auch Wissen aus der klinischen Versorgung in die Forschung zurückzutragen, das sei ihr Hauptanliegen, so Watzke. «Ich bin im Rahmen meiner Arbeit in einer privilegierten Lage, daher bemühe ich mich, einen Beitrag für die Gesellschaft und unser Gesundheitssystem zu leisten.»