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Die Lektüre ist erschütternd. Im Juni 2017 publiziert die US-amerikanische Zeitschrift «The Atlantic» einen ausführlichen Artikel über Psychopathie bei Jugendlichen. Protagonistin des Berichts ist Samantha. Ihre Adoptiveltern – sie Primarlehrerin, er Arzt – bieten dem Kind von klein auf ein gesundes und unaufgeregtes Zuhause.
Kaum zwei Jahre alt, pinkelt Samantha gezielt auf einen kleinen Jungen, mit dem sie sich zuvor gezankt hat. Sie zwickt und stösst Spielkameraden so lange, bis sie weinen – und sie selbst strahlt. Als ihre Mutter sie darauf anspricht, geht Samantha ins Badezimmer und wirft Mamas Kontaktlinsen ins Klo. «Ihr Verhalten war nicht impulsiv. Sie wusste genau, was sie tat», zitiert «The Atlantic» Samanthas Mutter. Samantha ist noch keine sechs Jahre alt, als die Mutter sie dabei erwischt, wie sie ihrer zweijährigen Schwester den Hals zudrückt. «Ich will euch alle töten», erklärt Samantha, als die Mutter sie zur Rede stellt. Wenig später versucht das Mädchen, ihren zwei Monate alten Bruder zu erdrosseln. Ein New Yorker Psychiater stellt endlich eine Diagnose: Störung des Sozialverhaltens mit kühl-emotionslosen Verhaltenszügen. In der Fachsprache nennt man sie callous-unemotional traits, kurz CU-traits.
CU-traits bei Kindern und Jugendlichen sind kein neues Phänomen. Doch in den letzten Jahren hat die Forschung damit begonnen, ihnen mehr Aufmerksamkeit zu schenken, da sie zumindest einen Teil der zunehmenden Aggression und Gewaltbereitschaft bei Jugendlichen erklären könnten.
Kühl-emotionslose Verhaltenszüge zeigen sich darin, dass sich Empathie und Gewissen beim Kind nicht ausreichend entwickeln. Die Konsequenz: Jugendliche mit CU-traits reagieren kaum auf emotionale Reize, erkennen die Gefühle ihrer Mitmenschen schlecht und zeigen wenig Angst, Schuld oder schlechtes Gewissen. Zudem agieren sie seltener im Affekt, sondern eher bewusst und berechnend. Das kann sie gefährlich werden lassen.
Vor zehn Jahren machte sich die britische Psychologin Essi Viding in Psychologiekreisen unbeliebt, weil sie die These vertrat, CU-traits seien möglicherweise im Menschen angelegt und nicht nur anerzogen. Sie belegte ihre These, indem sie mithilfe der Magnetresonanztomografie die Hirnfunktion verhaltensauffälliger Knaben mit derjenigen anderer Knaben verglich. 2005 hatten Forscher erstmals bildgebende Verfahren genutzt, um Merkmalen sozial auffälligen Verhaltens im Hirn nachzuspüren. Allerdings wurden die Studien vor allem mit männlichen Probanden durchgeführt.
Das änderte sich 2013 mit dem Start von FemNAT-CD. Das grossangelegte europäische Forschungsprojekt hat zum Ziel, die Ursachen geschlechtsspezifischer Unterschiede bei der Diagnose «Störung des Sozialverhaltens» zu ergründen. FemNAT-CD besteht aus zahlreichen Teilprojekten, zu denen auch Studien über die Erkennung und Regulierung von Emotionen gehören. 17 Hochschulen und Forschungszentren sind beteiligt, darunter auch die Universität Basel mit Psychologin Christina Stadler und die Universität Zürich mit Neuropsychologin Nora Raschle vom Jacobs Center for Productive Youth Development.
In einer ihrer ersten Studien im Rahmen von FemNAT-CD fanden Stadler und Raschle neuronale Unterschiede zwischen Jugendlichen mit verschieden stark ausgeprägten CU-traits. Die Unterschiede manifestierten sich in der so genannten Insula, einer Region des Vorderhirns, die an der Verarbeitung und Regulierung von Emotionen beteiligt ist. Bei männlichen Jugendlichen mit ausgeprägten CU-traits wies die graue Substanz der Insula eine höhere Dichte auf als bei Jugendlichen mit nur schwacher oder gar keiner Verhaltensauffälligkeit. Fazit dieser ersten Studie: CU-traits sind mit biologischen Veränderungen des Hirns verbunden, «allerdings nur bei Knaben», sagt Raschle, «bei den Mädchen bestand der Zusammenhang nicht».
Insgesamt 1800 Kinder wurden im Rahmen von FemNAT-CD untersucht, unter anderem mit bildgebenden Verfahren. Für die Kinder besteht dabei keine Gefahr: «Ein MRI-Gerät macht zwar viel Lärm, aber es funktioniert mit Magneten und verwendet keine invasive Strahlung», erklärt Raschle. Das MRI erkennt die Aktivität einzelner Hirnregionen anhand des dort herrschenden Sauerstoffgehalts und rechnet diese Daten zurück in ein auswertbares Bild. «Wie stark reagieren wir beispielsweise auf erschreckende Szenen in einem Film? Das lässt sich mit der Magnetresonanztomografie aufzeichnen», sagt Raschle.
In weiteren Studien gelang es den Forschenden von FemNAT-CD, zu zeigen, dass bei Mädchen mit einer Störung des Sozialverhaltens nicht nur die Gehirnstruktur, sondern auch die Gehirnfunktion und die Verbindungen zwischen bestimmten Hirnregionen verändert sind. «Bei solchen Mädchen ist eine Region im Vorderhirn, die für die Regulierung von Emotionen zuständig ist, weniger aktiv, und die Verbindungen zu anderen emotionsrelevanten Hirnregionen fehlen», sagt Nora Raschle. «Das Zusammenspiel zwischen Emotionsempfinden und Emotionsregulierung scheint also nicht richtig zu klappen.»
Eine nächste Studie soll nun zeigen, ob sich Jungs und Mädels mit derselben Diagnose punkto Emotionsregulierung ähnlich sind oder nicht. Man wisse allerdings, dass sich Knaben und Mädchen unterschiedlich verhalten, wenn sie aggressiv sind, sagt Raschle. Dies könne darauf hindeuten, dass es auch bei den dafür verantwortlichen Hirnfunktionen geschlechtliche Unterschiede gebe.
Und was meint Nora Raschle zum Beispiel Samantha? «Das ist sicher einer der extremsten Fälle eines gestörten Sozialverhaltens. Und er ist deshalb so interessant, weil Samantha anscheinend in einer sicheren und stabilen Familie aufwuchs. Leider ist es ja häufig das Umfeld, das problematisches Sozialverhalten fördert.» Für die Neurowissenschaftlerin ist klar, dass Verhaltensstörungen nicht nur biologisch begründet sind. «Kein Kind ist von Geburt auf böse», sagt Raschle.
Sie sieht vielmehr Unterschiede in den Ausprägungen, wie wir emotionale Situationen erkennen und verarbeiten. Diese Ausprägungen sind ihrer Ansicht nach genetisch mitbestimmt und können – wie alle anderen individuellen Ausprägungen auch – ans extreme Ende eines Verhaltensspektrums geraten. Unverrückbar ist solch ein genetisch geprägtes Modell aber nie. Eltern, Lehrer oder Therapeuten können es beeinflussen und korrigierend eingreifen. Am Ende, so Nora Raschle, sei menschliches Verhalten stets ein Produkt zweier Faktoren: der Gene, die wir in uns tragen, und des Umfelds, in dem wir aufwachsen.
Wichtig ist jedoch, stets beide Ursächlichkeiten im Auge zu behalten. «Zweck unserer Forschung ist es ja letztlich, möglichst geeignete und individualisierte Therapieansätze für die betroffenen Kinder zu finden», erklärt Raschle. «Und wenn wir dank MRI-Technik wissen, dass Störungen des Sozialverhaltens auch biologische Gründe haben können, erweitert dies den Blickwinkel und damit die Möglichkeiten einer passenden Therapie.»
Als «The Atlantic» den eingangs zitierten Artikel publizierte, war Samantha elf Jahre alt und lebte seit zwei Jahren in einem Therapiezentrum in Texas. Sie hatte ihre Emotionen noch immer nicht im Griff. Tadelte ein Lehrer sie, wartete Samantha auf einen günstigen Moment, um ihm den gespitzten Bleistift in die Hand zu rammen. Doch es gab auch schon Lichtblicke: Samantha hatte eine Freundin gewonnen und vermochte gelegentlich deren Gefühle wahrzunehmen, ja sie gar zu trösten, wenn sie traurig war.
Das texanische Zentrum hat seinen Therapieansatz einer medizinischtherapeutischen Einrichtung für jugendliche Gewaltverbrecher abgeschaut (siehe Kasten). Es gibt also Ansätze, um aggressives Verhalten zu therapieren. Die Frage ist nur: Ändert eine solche Therapie nur das Verhalten oder auch die Biologie? Ist es möglich, mit therapeutischen Mitteln ungenügend ausgebildete oder wenig aktive Hirnregionen zu trainieren, zu verändern? Nora Raschle: «Darüber weiss man noch zu wenig. Genau das wird zurzeit untersucht.»
Ob die Biologie das Verhalten oder das Verhalten die Biologie beeinflusst, bleibt vorderhand ein Huhn-Ei-Problem. Tatsache ist allerdings: Machen Kleinkinder in ihrem Umfeld negative Erfahrungen, hat dies Auswirkungen auf ihr Hirnwachstum. Durchaus denkbar also, dass Negativerfahrungen auch Auswirkungen auf die Entwicklung jener Hirnregionen haben, die Emotionsverarbeitung und Emotionsregulierung steuern.
Die europäische Grossstudie ist mittlerweile abgeschlossen. «Jetzt werden die Auswertungen folgen», sagt Nora Raschle. Dabei darf man auch mit Antworten auf die noch offenen Fragen der Emotionsregulierung bei Jugendlichen rechnen – Antworten auch auf Fragen geschlechtsspezifischer Unterschiede. «Das Thema wurde lange Zeit vernachlässigt», bilanziert Raschle, «aber die Erkenntnisse werden der Forschung neuen Schub geben.»