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Die UZH-Historikerin Marietta Meier hat zusammen mit vier Mitarbeitenden in einem vom Kanton Thurgau finanzierten Forschungsprojekt untersucht, in welchem Umfang und auf welche Weise zwischen 1946 und 1980 in Münsterlingen Psychopharmaka getestet wurden.
Dreh- und Angelpunkt der Medikamentenversuche an der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen war der Oberarzt und spätere Klinikdirektor Roland Kuhn, der eine massgebende Rolle bei der Entwicklung des ersten Antidepressivums Tofranil spielte. Unter seiner Leitung wurden in Münsterlingen nachweislich 67 Prüfsubstanzen getestet. Die Pharmaindustrie zahlte ihm dafür - auf heutige Verhältnisse umgerechnet – rund acht Millionen Franken.
An den Versuchen war ein breites Netz von Akteuren beteiligt: Pharmafirmen, Klinikpersonal, Tausende von stationären und ambulanten Patientinnen und Patienten, deren Angehörige sowie weitere Kliniken, privat praktizierende Ärzte und Behörden.
Das Forschungsteam um Marietta Meier hat in den Akten Hinweise auf knapp 120 Versuchssubstanzen gefunden. Bei 67 Stoffen liegen eindeutige Beweise für eine Prüfung vor. Für weitere 50 Stoffe sind Anfragen oder Lieferungen belegt. Die Form der Versuche variiert stark, neben Schnellprüfungen mit einigen wenigen Personen gab es gross angelegte, langjährige Tests mit über 1000 Patienten.
Namentlich identifizierten die Forschenden gut 1100 Personen, denen Prüfsubstanzen verabreicht wurden. Kuhn selbst erwähnte insgesamt knapp 3000 Fälle. «Die tatsächliche Zahl dürfte jedoch einiges höher liegen», sagt Marietta Meier.
Darauf lässt die Menge Prüfstoffen schliessen, die nach Münsterlingen gelangten: Meier weist für die Zeit von 1946 und 1980 Testmedikamente im Umfang von drei Millionen Einzeldosen nach.
Neben der Psychiatrischen Klinik Münsterlingen und den Pharmafirmen war ein breites Netz von Institutionen und Personen in die Versuche einbezogen: stationäre und ambulante Patienten, deren soziales Umfeld, privat praktizierende Ärzte, andere Kliniken und Behörden.
Das Spektrum der betroffenen Patientinnen und Patienten war gross. Kategorien wie Bevormundung, soziale Herkunft oder Geschlecht scheinen bei der Auswahl keine Rolle gespielt zu haben. Heim- und Pflegekinder wurden nicht anders behandelt als Kinder und Jugendliche, die bei ihren Eltern lebten. Die einzige Ausnahme waren «schwere, chronische Fälle», die Kuhn aufgegeben hatte und dazu benutzte, unbekannte Stoffe kennenzulernen.
Kuhn nahm für sich in Anspruch, Patienten nicht auf Zahlen, Kurven und Statistik zu reduzieren, sondern den gesamten Menschen zu erfassen. Tatsächlich waren die Münsterlinger Versuche explorativ, die Bedingungen der Prüfung nicht von Beginn weg festgelegt.
Das offene Vorgehen widersprach den systematischen, wissenschaftlichen Vorgaben, die ab den 1960er-Jahren entstanden. Die Pharmafirmen liessen Kuhn jedoch gewähren. Durch die Regulierung der Medikamentenzulassung und der Prüfmethoden verschob sich im Laufe der Zeit seine Rolle als Prüfer. Die Firmen setzten ihn nun für Schnellprüfungen ganz zu Beginn der klinischen Prüfphase einer neuen Substanz ein oder liessen ihm in Langzeitversuchen freien Lauf.
«Kuhn behauptete, die Prüfpatienten seien immer eng beobachtet und überwacht worden», sagt Marietta Meier. Dem überlasteten Klinikpersonal fehlte jedoch die Zeit, um Probanden eng zu betreuen, alles genau schriftlich festzuhalten und sämtliche erwünschten Begleituntersuchungen durchzuführen. «Von einer konsequenten Kontrolle kann also nicht die Rede sein, es gab auch Zwischen- und Todesfälle», so Meier.
Dass Patientinnen und Patienten umfassend über Prüfsubstanzen aufgeklärt wurden und völlig freiwillig an klinischen Versuchen teilnahmen, kam in Münsterlingen selten vor. In manchen Fällen, speziell bei ambulanten oder psychiatrisch versierten Patientinnen und Patienten, informierte Kuhn genauer, zum Teil aber erst auf Nachfrage.
Kuhn betonte stets, er habe die klinischen Versuche in seiner Freizeit durchgeführt. Dass er auf Personal, Infrastruktur und nicht zuletzt auf Patientinnen und Patienten der Klinik zurückgriff, blieb unerwähnt. Aus seiner Sicht waren die Versuche und deren Resultate seine persönliche Leistung. Deshalb schien es ihm auch selbstverständlich, dass die Pharmafirmen die Vergütungen für die Forschungstätigkeit an ihn persönlich überwiesen.
Forschungsinteresse und finanzielle Motive lassen sich allerdings bei Kuhn kaum voneinander trennen. Geld war für ihn in erster Linie eine Form von Anerkennung und eine Erfolgsbestätigung.
Gleichzeitig war Kuhn von einem grossen pharmakologischen Optimismus geprägt. Schliesslich sicherten die Versuche den Zugang zu den neuesten Substanzen und entlasteten das Medikamentenbudget der Klinik, was auch der Regierung entgegenkam. Wohl nicht zuletzt deshalb gingen Tests bisweilen nahtlos in eine routinemässige, therapeutische Abgabe von Prüfstoffen über.
Um 1962 setzten erste Regulierungen der Zulassung neuer Medikamente, der Risiken und Nebenwirkungen sowie der Testmethoden ein. Die Prüfungen sollten nun schrittweise vereinheitlicht und auf statistische, quantitative Massgaben ausgerichtet werden. Impulse zu diesem Wandel kamen nicht nur von Behördenseite, sondern auch aus der Pharma-industrie. Gemessen an diesen Standards wich Kuhns Prüfpraxis in mehreren Punkten von der Norm ab.
Einige Versuchsstoffe nach Münsterlingen, ohne dass sie alle Stadien der bereits üblichen Vorabklärungen durchlaufen hatten. Die heute gängigen Phasen einer Stoffprüfung wurden erst in den 1960er-Jahren definiert. Demgemäss sollte eine neue Substanz in der vorklinischen Phase zuerst auf Toxizität geprüft werden, worauf die Verträglichkeitsprüfungen an freiwilligen, gesunden Versuchspersonen folgten. Erst danach begann die klinische Phase mit Tests an Patienten.
In einigen Fällen hatten jedoch Pharmafirmen die toxikologischen Prüfungen noch nicht abgeschlossen, wenn die klinische Prüfung bei Kuhn einsetzte; manchmal wurden vorgängig auch nicht alle üblichen Tests durchgeführt.
Kuhn befolgte die neuen methodischen Vorgaben für die Psychopharmaka-Forschung nicht. Diese waren zwar lang nicht juristisch bindend, wurden jedoch für die Zulassungsanträge in den USA und ab den 1970er-Jahren auch in der Schweiz notwendig. Damit nahmen seine Ergebnisse für die Pharmafirmen einen wichtigen, aber informellen Status an.
Zudem hielt sich Kuhn nicht an die von den Firmen vorgegebenen Prüfanfänge und -enden. Gewisse Substanzen wurden auch weiterverwendet und an Drittpersonen weitergegeben, wenn der Versuch bereits abgeschlossen war.
Mit der Deklaration von Helsinki von 1964 und den Richtlinien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) zu Forschungsuntersuchungen am Menschen von 1970 wurden neue ethische Grundsätze eingeführt. In der Ärzteschaft begann sich spätestens in den 1970er-Jahren ein Bewusstsein für ethische Fragen bei klinischen Prüfungen am Menschen und die damit verbundenen Risiken und Gefahren zu entwickeln. Kuhn nahm diese zunächst kaum zur Kenntnis, war allerdings offenbar bei weitem nicht der Einzige.
Problematisch scheinen zudem aus heutiger Sicht alltägliche Grenzüberschreitungen. So kam es beispielsweise vor, dass Kuhn bei einer Patientin aus Vorsicht eine gefährliche Prüfsubstanz absetzte, zugleich aber eine neue Patienten in dieselbe Versuchsreihe aufnahm.
Oft verabreichte Kuhn Stoffe mit unberechenbarer Wirkung zunächst den hoffnungslosen, sogenannt «schweren Fällen», um ein erstes Bild zu gewinnen – um dann anschliessend zu Patienten mit günstigerer Prognose überzugehen.
Grenzen überschritt Kuhn auch, wenn er nicht-registrierte Stoffe getarnt abgegeben liess und Patienten unter wachsendem Druck zur Einnahme von Substanzen bewegte; oder wenn er Patienten ohne Information oder Zustimmung in Versuche einbezog, obwohl bereits Richtlinien existierten, die dies gefordert hätten.
Nicht zuletzt aus finanziellen Gründen verfolgte er die Strategie, einen Grossteil der Patienten mit Prüfsubstanzen statt mit zugelassenen Medikamenten zu behandeln.
Was den Fall Münsterlingen von der zeitgenössischen Prüflandschaft unterscheidet, ist die ausgezeichnete Dokumentationslage, die es erstmals erlaubt, klinische Prüfungen derart eng nachzuverfolgen. Die Quellenbestände sind keineswegs ausgeschöpft. Offene Fragen, etwa zur Zahl der schweren Zwischen- und Todesfälle, könnten deshalb weiterverfolgt werden.
«Um eine weitere Einordnung zu ermöglichen, müssten die Münsterlinger Versuche mit denjenigen anderer Kliniken verglichen werden», sagt Meier.
Über klinische Versuche in der Schweiz ist noch wenig bekannt. Klar aber ist, dass vielerorts getestet wurde. In den bearbeiteten Quellenbeständen fand sich ein breites Spektrum weiterer in- und ausländischer Prüfstellen, das von Kliniken über Heime bis zu Privatpraxen reicht.