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Fès im 12. Jahrhundert: eine pulsierende Metropole im Norden Marokkos, an der Kreuzung der Karawanenstrassen zwischen Mittelmeer und Schwarzafrika, zwischen Atlantik und Maghreb gelegen, ein Umschlagplatz für wertvolle Rohstoffe aller Art, die das Handwerk in der für jene Zeit überdurchschnittlich grossen Stadt blühen lassen. Vor kurzem erst haben die herrschenden Almoraviden, geschwächt vom Abwehrkampf gegen eindringende Christen, den Almohaden den Vorrang abgetreten. Somit schwingen sich Berberstämme aus dem Süden zur neuen politischen und religiösen Elite von Fès empor; als überzeugte Islamisten etablieren sie ein anderes Verständnis von Wissenschaft und krempeln das Bildungssystem um. Die Atmosphäre in Fès ist angespannt.
Mittendrin steht der Prediger und Rechtsgelehrte Ibn Arfa’ Ra’s. Seine Vorfahren sind aus Andalusien eingewandert, er hat sich in Fès zur Respektsperson emporgearbeitet. Berühmt ist er vor allem für seine Dichtkunst: Ibn Arfa’ Ra’s ist Verfasser der «Schudhur adhdhahab», zu Deutsch «Goldsplitter», einer Sammlung von 43 nach Reimbuchstaben geordneten Gedichten. Es handelt sich um eine für jene Zeit typische Lehrdichtung – einprägsam wie ein Schlagertext und deshalb auch leicht auswendig zu lernen. Ungewöhnlich allerdings ist der Inhalt der rund 1400 Verse: In den «Goldsplittern» geht es um alchemistische Prozesse.
Alchemie ist eine Sparte der Naturphilosophie. Sie versucht, die Eigenschaften und Reaktionen der irdischen Substanzen zu erklären. Erstmals schriftlich erwähnt wird alchemistische Forschung in ägyptischen und hellenistischen Schriften des 6. Jahrhunderts; im 18. Jahrhundert wird sie von der modernen Chemie und Pharmakologie abgelöst. Je stärker sie an Bedeutung gewinnt, desto mehr hängt der Alchemie der Ruf des Okkulten an. Zu Unrecht, denn Wunschziel der Alchemisten in Antike und Mittelalter ist es nicht nur, aus unedlen Metallen Silber und Gold herzustellen. So suchen sie etwa auch nach einem Universalheilmittel für Krankheiten aller Art – eine keineswegs unrealistische Idee, denken wir bloss an die Entdeckung des Penicillins anno 1928.
Über die frühen alchemistischen Praktiken im arabischen Raum ist wenig bekannt. «Wir wissen nicht, wer dort Alchemie praktizierte», sagt Regula Forster, «wir wissen nur, dass es eine Alchemistenszene gab.» Die Professorin für Arabistik stützt sich auf Textstellen in alten Handschriften, wo Alchemisten der Lüge bezichtigt werden oder gar von Hinrichtungen alchemistischer Forscher die Rede ist. Denn freilich hatten sie Feinde. Den religiösen Fundamentalisten war die Naturphilosophie ein Dorn im Auge, liberalere Muslime wiederum liessen die Alchemisten eher gewähren.
«Das Verhältnis zwischen Religion und Alchemie war zwiespältig», sagt Regula Forster.
Um dieses Verhältnis besser zu verstehen, suchte Forster nach einem Protagonisten, der beides – Religion und Alchemie – verband. Und stiess auf Ibn Arfa’ Ra’s, den Prediger und Alchemisten in Personalunion, Autor der «Goldsplitter», die in poetischer Sprache mit religiös geprägten Bildern alchemistische Prozesse beschreiben. Ein Glücksfall, wie es schien. Am Beispiel des Ibn Arfa’ Ra’s würde sie zeigen, dass Religion und Alchemie im arabischen Raum durchaus koexistieren konnten.
Doch es kam anders. Denn nach zweijähriger Recherchearbeit ist nun klar: Ibn Arfa’ Ra’s ist nicht eine Person, sondern zwei. «Man hat sie fusioniert», sagt Forster. Viele Quellen deuten darauf hin, dass der Prediger und Rechtsgelehrte nicht identisch ist mit dem Alchemisten, der die «Goldsplitter» schrieb. Entstanden ist die seltsame Fusion wohl dadurch, dass man Teile der traditionellen arabischen Namensketten beider Männer in der Überlieferung allmählich wegliess. In diesen oft sehr langen Ketten werden die Vorfahren der Namensträger genannt; fallen diese Namen weg, kann es zu Verwechslungen kommen.
«Jetzt hatte ich natürlich ein Problem», erzählt Regula Forster und schmunzelt. Gescheitert ist ihr Projekt deswegen nicht, es musste allerdings einen anderen Weg einschlagen. Denn allein schon die «Goldsplitter» des profanen Autors Ibn Arfa’ Ra’s verknüpften Religion und Alchemie sehr wohl. Dies zeigt sich vor allem auch in den zahlreichen späteren Abschriften des – leider verschollenen – Originals von Ibn Arfa’ Ra’s. Ein Beispiel stammt aus der iranischen Stadt Qom. Im 19. Jahrhundert war Qom eine Hochburg der schiitischen Lehre; der Buchdruck fand in der islamischen Welt damals noch kaum Verwendung. So kopierte ein von den Schriften des Ibn Arfa’ Ra’s offensichtlich begeisterter Mulla das Hauptwerk des Marokkaners einmal mehr von Hand. In den ersten Teil seines Hefts schrieb er Sprüche des Propheten, im zweiten Teil folgten nahtlos die Verse der «Goldsplitter». Für Regula Forster ist damit klar: «Auch in jener Zeit noch hat man die Alchemie absolut ernst genommen, sogar im religiösen Kontext.» Die Verbindung von Religion und Alchemie gibt es sehr wohl.
Andere Spuren führten die Forschenden nach Ägypten. Vieles deute darauf hin, dass sich Ibn Arfa’ Ra’s – wir sprechen fortan nur noch vom Alchemisten – im Land am Nil niedergelassen habe, sagt Forster. In einer handschriftlichen Kopie des «Goldsplitter»Kommentars, die Projektmitarbeiterin Juliane Müller in einer iranischen Bibliothek ausgrub, hält der Schreibende fest, Ibn Arfa’ Ra’s persönlich habe ihm den Text am Hafen von Alexandria diktiert. Gut möglich, dass der grosse Erfolg, den Ibn Arfa’ Ra’s im marokkanischen Fès mit seinen alchemistischen «Goldsplittern» hatte, den islamistischen Almohaden nicht gefiel, sie den missliebigen Bestsellerautor deshalb bedrängten und sich dieser ins religiös und geistig offenere Ägypten absetzte.
Dass Ibn Arfa’ Ra’s auch dort von sich reden machte, ist allerdings bemerkenswert. «Der Wissensfluss verlief damals von Osten nach Westen und nicht umgekehrt», erklärt Regula Forster. «Dass ein Autor aus dem Westen im Osten Beachtung fand, ist ungewöhnlich.» Bis ins 20. Jahrhundert wurden im Gebiet des heutigen Ägypten, Syrien, Iran und Irak Abschriften der «Goldsplitter» und des Begleitkommentars angefertigt; rund 100 davon sind noch auffindbar. Gedruckt wurde das Werk des Ibn Arfa’ Ra’s ein einziges Mal, und zwar 1881 in Bombay. Von der Auflage erhalten sind nur noch ein paar wenige Exemplare, alle anderen wurden in den indischen Bibliotheken und Archiven von Termiten zerstört.
Von Beginn weg war es deshalb auch ein Ziel des Projekts, die «Goldsplitter» neu zu drucken, dies in Form einer kritischen und kommentierten Ausgabe auf Arabisch mit deutscher Übersetzung. Bereits haben Regula Forster und ihre drei Zürcher Kolleginnen und Kollegen 83 der rund 100 erhaltenen Handschriften aufgespürt, gelesen, verglichen. Haben die weniger bedeutenden Kopien des Werks ausgeschieden, um sich auf die originalgetreusten zu stützen und den arabischen Text möglichst so wiederzugeben, wie ihn Ibn Arfa’ Ra’s vor rund 850 Jahren verfasst haben könnte.
Warum die viele Mühe? «Ich will herausfinden, warum Alchemie in der islamischen Welt neben all dem Religiösen so populär war, und der Bestseller des Ibn Arfa’ Ra’s ist dazu ein guter Ausgangspunkt», erklärt Forster. Ihr Grundinteresse und auch ihr Ziel sind also dieselben geblieben, auch wenn ihr Projekt unerwartet eine andere Richtung genommen hat als geplant. Etwas, das Forster im Übrigen weder erstaunt noch beunruhigt. Im Gegenteil: «Gute Forschung bringt immer andere Resultate als die erwarteten. Es wäre verdächtig, wenn unsere Recherchen nur die These bestätigten, mit der wir an die Arbeit gingen. Dann wäre unser Projekt entweder falsch angelegt oder schlicht uninteressant.»