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«Heidi, Heidi, deine Welt sind die Berge. Heidi, Heidi, denn hier oben bist du zu Haus.» Als Hans Bjarne Thomsen im Jahr 2007, als frisch gebackener Professor für Kunstgeschichte an der UZH, mit seiner japanischen Frau auf der Rigi wandert, und sie eine Herde mit Ziegen sehen, singt seine Frau laut den Refrain des Heidi-Animes, den in Japan jedes Kind und alle Erwachsenen kennen. «Ich fand das faszinierend. Damals habe ich gedacht, sie ist doch erwachsen. Sie erinnert sich an das Anime von Heidi, das sie vor 30 Jahren gesehen hat und das bis heute ihr Bild von der Schweiz prägt», sagt Thomsen lachend. Und das gilt nicht nur für Japaner, auch für Europäer, Mexikaner oder Argentinier. Bis heute ist das Naturmädchen Heidi die literarische Identifikationsfigur der Schweiz schlechthin. Es tritt in Comics und Musicals ebenso auf wie in Hollywood-Adaptionen.
Der japanische Animationsfilm, der in 52 Folgen zuerst in Japan und Anfang der 70er Jahre in ganz Europa ausgestrahlt wurde und zum Klassiker avancierte, geht zurück auf die 1880 erschienenen Romane der Schweizer Autorin Johanna Spyri. «Heidis Lehr- und Wanderjahre», und «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat». Es ist die Geschichte um ein Waisenkind, das in der Obhut eines gutmütigen aber auch knurrigen Grossvaters seine Liebe zu den Bergen entdeckt. Sie wurden ein Klassiker des Jugendromans. Genauso wie der Heidi-Anime inzwischen ein Klassiker ist. Längst sind die Film-Kulleraugen von Heidi, das grelle Grün der Alp, die hüpfenden Ziegen in den Köpfen von Heidi-Fans mit dem der Alp des Romans verschmolzen.
Die Heidi-Begeisterung der Siebzigerjahre gehen auf drei Japaner zurück. Die japanischen Anime-Künstler Isao Takahata, Hayao Miyazaki und Yōichi Kotabe, hatten sich bereits 1973 auf den Weg nach Europa gemacht, um für ihren Film vor Ort zu recherchieren. «Bis heute hat kaum eine der unterschiedlichen Interpretationen das internationale Bild von Heidi so sehr geprägt wie diese Zeichentrickserie», sagt Thomsen. Das Idyll auf den Bergen verzaubert 45 Jahre nach der Erstausstrahlung in Japan immer noch. Warum gerade Heidi? Nach dem zweiten Weltkrieg hatte die aufstrebende Industrienation Japan das Bedürfnis nach Harmonie und heiler Welt. Deshalb sprach Spyris Alpenidyll die Japaner besonders an, sagt Thomsen.
Das Heidi-Anime begeisterte aber nicht nur in Japan. Als die Produktion in Europa ausgestrahlt wurde, war sie schnell ein Hit. Die Einschaltquoten waren hoch, das deutsche ZDF und die spanischen und italienischen Sender meldeten Rekorde. Interessant ist, dass die Serie im Schweizer Fernsehen nicht gezeigt wurde. Vielleicht lag es daran, dass eine in Deutschland, Österreich und der Schweiz koproduzierte Heidi-Serie in 26 Teilen geplant war. Diese wurde 1978 ausgestrahlt, kam aber niemals an den Erfolg und Bekanntheitsgrad des japanischen Animes heran.
Die japanische Heidi-Anime-Serie wurde aber auch, dank der ausländischen Sender, in der Schweiz ein Erfolg und von vielen Kindern gesehen. Gleichzeitig prägte die aus Japan stammende Ästhetik der Animes andere Kulturformen. Somit wurden die Türen geöffnet für die Mangas und andere Filme. War in Japan die europäische Welt interessant und das vermeintliche Naturidyll der Schweizer Berge ein Sehnsuchtsort, so wurde auf der anderen Seite des Globus, in Europa, die moderne Kultur Japans entdeckt.
Die Walt-Disney-Produktionen mit ihrer Gut-und-Böse-Welt bekamen Konkurrenz. «In den Animes ist sind die Figuren differenzierter», sagt Thomsen. Nicht zuletzt war die Ästhetik und der Stil des Illustrators der Heidi-Serie Yōichi Kotabe prägend. Er wirkte nicht nur in Fernsehserien oder Filmen wie Heidi mit. Er zeichnete später auch für die in der ganzen Welt berühmten Pokémon-Filme oder für Videospiele wie beispielsweise Mario vs. Donkey Kong oder Super Mario.
Mit dem Heidi-Anime begann der japanische Stil an Einfluss zu gewinnen. Dieser Kulturtransfer zwischen Japan und Europa interessiert den Kunsthistoriker Thomsen seit langem und er forscht über dieses Thema. «Es sind wirtschaftliche, literarische, kunsthistorische Aspekte, die wir bearbeiten und die auch Thema einer wissenschaftlichen Tagung im August sein werden», sagt Thomsen, der sich besonders darüber freut, dass auch Yōichi Kotabe an der Tagung teilnehmen wird.
Zusätzlich freut sich Thomsen über das Zustandekommen einer Ausstellung über Heidi und Japan, die ab 17. Juli im Züricher Landesmuseum zu sehen ist. An der Ausstellung hat er als Gastkurator mitgewirkt. Ein besonderer Augenschmaus seien die vielen Einzelzeichnungen von Yōichi Kotabe, die für den Anime nötig waren. Kotabe zeichnete tausende von Skizzen. Sie seien besonders und zeigten bis ins Detail, wie intensiv die Filmemacher sich für die Heidi-Serie mit der Schweiz auseinandergesetzt hätten.
In Maienfeld und Umgebung hatte der Regisseur Takahata und sein Team Bild- und Tonaufnahmen gemacht. Jedes Haus, jede Wiese, die sie später daheim in Tokio zeichneten und animierten, entstammte einem realen Vorbild, das sie auf ihrer Reise zu Gesicht bekamen. Ein kleines Detail: Zuerst wollten sie Heidi mit Zöpfen zeichnen, doch nach einem Gespräch mit einem Museumdirektor in Chur gaben sie Heidi die praktische Kurzhaarfrisur. Der Grossvater auf der Alp hätte niemals die Zeit, dem Mädchen die Haare zu flechten, hatten sie erfahren.
«Als ich 2007 in die Schweiz kam, hat mich dann natürlich auch interessiert, was die Schweizer über das Anime denken», erzählt Thomsen rückblickend. Manche zeigten sich stolz, dass Heidi in Japan so positiv dargestellt wurde, und dass die Schweiz als herrliches Land geschildert wird, in der die Natur eine grosse Rolle spielt. Andere waren kritischer: In den Heidi-Serien werde die deutsche Stadt Frankfurt als Ort der Kultur und des kulturellen Lebens geschildert. Und so stehe die hochmoderne Schweiz in einem falschen Licht da.
«Auch eine interessante Frage», sagt der Kunsthistoriker, der bereits als Doktorand in Princeton über Animes forschen wollte. Damals habe ihm aber sein Doktorvater abgeraten und gemeint, jede Forschung über japanische Kunst, die sich mit der Zeit nach dem 16. Jahrhundert befasse, sei Trash. Zum Glück hat Thomsen nicht auf seinen Doktorvater gehört.