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Einen Kühlschrank konnten sich über viele Jahre nur Privilegierte leisten. Erst in den 50er-Jahren wurde der erste «Volks-Kühlschrank» der Marke Sibir für alle erschwinglich. Gerne wird heute von der «eiskalten Revolution» gesprochen, weil sich mit den neuen Haltbarkeits-Möglichkeiten auch grundlegend veränderte, was der Schweizer oder die Schweizerin einkaufte.
Für Hans Stierlin, Gründer und Patron der Firma Sibir, hatte der Begriff Revolution allerdings noch eine ganz andere Bedeutung. Stierlin, 1916 in Zürich geboren, gehörte nämlich zu einer kleinen Gruppe von Trotzkisten in der Schweiz, die auf eine kommunistische Wende in der Welt hofften. Ausgerechnet im Unternehmer Stierlin, der mit seiner Kühlschrank-Fabrik in Schlieren auch als Pionier der Massenfertigung galt, steckte also ein Gegner des Kapitalismus.
Die Geschichte Stierlins ist Teil eines neuen Buches, das kürzlich anlässlich einer Vernissage im Archiv für Zeitgeschichte der ETH vorgestellt wurde. Die Publikation mit dem Titel «Archive des Aktivismus. Schweizer Trotzkist*innen im Kalten Krieg» enthält insgesamt zehn Beiträge, die erstmals einen vertieften Einblick in die Bewegung gewährt.
Das Beispiel Stierlins zeigt die Zeit des kalten Krieges in ungewohntem Licht. Stierlin war ein Unternehmer, der versuchte, seine politischen Überzeugungen im eigenen Betrieb umzusetzen. Er sorgte dafür, dass die Löhne seiner Arbeiter höher und die Arbeitszeiten kürzer waren als bei der Konkurrenz. Zudem stellte er mehrfach politische Aktivisten ein – einer von ihnen war zuvor wegen Terrorismus verurteilt worden.
Der Erfolg der Firma Sibir gründete wohl auch darin, dass Stierlin eher Pragmatiker als Dogmatiker war. Er wusste genau, wie weit er gehen konnte, ohne dass sein Betrieb an seinem für diese Zeit heiklen politischen Engagement einen grösseren Schaden nahm. So hatte die Belegschaft etwa nur auf dem Papier ein Mitbestimmungsrecht und Frauen verdienten auch bei ihm stets weniger als Männer.
Speziell am neu erschienenen Buch über die Schweizer Trotzkistinnen und Trotzkisten sind nicht alleine die überraschenden, sorgfältig redigierten und bebilderten Beiträge. Auch die Entstehungsgeschichte ist bemerkenswert: Die Wurzeln des Buches liegen in einer Lehrveranstaltung am historischen Seminar der Universität Zürich. Ursprünglich war gar keine Publikation geplant, wie Professorin Monika Dommann sagt. «Auch das Thema stand anfangs gar nicht im Zentrum.» Vielmehr seien es die vor zwei Jahren neu zugänglich gemachten Archivbestände gewesen, die den Reiz der Historikerin und ihren Kollegen geweckt hatte.
Im Rahmen eines Seminars wühlten sich Studierenden im Herbst 2016 durch Berge von Unterlagen und Dokumenten. Wöchentlich traf man sich vor Ort am Archiv für Zeitgeschichte zur Lagebesprechung. Selbstständig arbeiteten die Studierenden schliesslich an ihren eigenen Themen, woraus eine Vielzahl an Seminararbeiten resultierte. «Statt viele Texte zu lesen, lernen die Studierenden, indem sie forschen», erklärt Dommann den Sinn der Übung.
So weit, so normaler Studienalltag. Doch für einmal landeten die Arbeiten nicht in der Schublade. «Wir fanden, dass wir daraus doch etwas machen sollten», so Dommann. Als im letzten Jahr der Verlag intercom gegründet wurde, habe man schnell erkannt, dass dies der richtige Partner für eine Publikation sei. Denn der nicht gewinnorientierte Verein gibt die Schriftenreihe Æther heraus. Diese wiederum setzt sich zum Ziel, studentische Forschung einem grösseren Publikum zugänglich zu machen, indem sie besser lesbar gemacht, ansprechend bebildert und schliesslich publiziert wird. Der Beitrag über die Schweizer Trotzkisten ist die zweite Veröffentlichung in der Reihe.
Dafür, dass aus den Seminararbeiten gut lesbare Geschichten wurden, war von den Studierenden Engagement gefragt. Zusätzliche ECTS-Punkte gab es für das Buchprojekt nämlich keine. Trotzdem nahmen die meisten Studierenden des Seminars den Zusatzaufwand auf sich. Geschichtsstudent Nicolas Hermann, der die Geschichte über Hans Stierlin aufgeschrieben hat und sich dafür durch rund 30 Schachteln Material wühlte, sagt: «Dabei zu sein, wie ein Buch entsteht und zu sehen, wie aufwändig das ist, machte mir Eindruck.» Alleine um seinen Artikel umzuschreiben habe er 30 bis 40 Stunden investiert. Hermann war auch Teil einer dreiköpfigen Redaktion. Als solcher konnte er hautnah miterleben, wie viel Arbeit ein solches Werk auch für die Herausgeber bedeutet.
Das Buch ist ein gutes Beispiel dafür, was ein einziges Seminar bewirken kann. So zeitigt das Projekt nachhaltig Folgen. Hermann etwa plant, kommendes Jahr auch seine Masterarbeit der Firma Sibir zu widmen.
Professorin Dommann wiederum schwebt ein nächstes Praxis-Seminar vor – dieses Mal zur «New Economy». Gemeinsam mit Studierenden möchte sie die Frühphase von Startups untersuchen. Derzeit sucht sie noch Firmen, welche für ein solches Projekt ihre Archive öffnen.