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Lebensende

Ein würdiges Ende für Maria

Demenzkranke können sich nicht äussern. Sie sind auf Hilfe angewiesen, besonders am Ende ihres Lebens. Das Forschungsteam der Zürcher Verlaufsstudie zu Leben und Sterben mit fortgeschrittener Demenz hat einen Leitfaden für Angehörige herausgegeben.
Marita Fuchs
Viele Menschen am Lebensende haben ein vermindertes Hunger- und Durstgefühl. (Illustration: Tara von Grebel)

 

Maria* ist krank. Vor etwa 5 Jahren wurde bei ihr eine fortschreitende Demenz diagnostiziert. In letzter Zeit hat sie stark abgenommen, sie ist sehr verwirrt, ihre Kinder und Enkelkinder erkennt sie schon länger nicht mehr. Sie kann sich nicht äussern, nichts erzählen, nicht sagen, ob sie Schmerzen hat. Seit drei Jahren lebt die 81jährige Zürcherin in einem Altersheim. Die Pflegefachkräfte erleben Maria als freundliche Person, bescheiden sei sie, liebenswürdig, ruhig, ausser in der Nacht. Häufig steht sie dann auf, sucht irgendetwas. In letzter Zeit verweigert Maria das Essen. Die ohnehin schlanke Frau verliert immer mehr an Gewicht. Die Angehörigen sind besorgt: Soll man Maria zwingen, etwas zu essen? Hat sie Schmerzen? Wie kann man erkennen, was für sie gut und wichtig wäre?

Wie Marias Verwandten geht es vielen Menschen weltweit. Doch die Faktenlage zu Menschen mit Demenz am Lebensende ist dünn. In der Schweiz und auch international gibt es kaum Forschung zu diesem Thema, zudem wenig statistisch auswertbares Datenmaterial. Dem wollte der Schweizerische Nationalfonds mit dem Forschungsprogramm «Lebensende» entgegenwirken. Das Ziel: Mehr über das Sterben wissen, um es menschlicher zu gestalten. Die Universität Zürich beteiligte sich an diesem Forschungsprogramm mit «ZULIDAD», einer Verlaufsstudie zu Leben und Sterben mit fortgeschrittener Demenz.

Am runden Tisch Forschung und Praxis vereinen: Friederike Geray, Leiterin für Fort- und Weiterbildung am Zentrum für Gerontologie (l.), und Stefanie Eicher, Projektleiterin von ZULIDAD, entwickleten zusammen mit 30 Forschenden, Angehörigen und Fachpersonen aus der Praxis einen Leitfaden zum Umgang mit Demenzkranken am Lebensende. (Bild: Fabio Schönholzer)

Dritthäufigste Todesursache

«Forschung im Bereich Demenz muss über die medizinische Ursachenforschung hinausgehen», sagt Stefanie Eicher, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Zentrum für Gerontologie und Projektleiterin von ZULIDAD. Eine wichtige Frage sei, wie man die Lebensqualität von Demenzkranken verbessern kann. Das Problem brennt. Bis zum Jahr 2050 rechnen Statistiker mit rund 131 Millionen Demenzkranken weltweit. 2015 lag die Zahl der Betroffenen noch bei 47 Millionen. In der Schweiz gilt Demenz bereits als dritthäufigste Todesursache. Demenzkranke wie Maria sind im Vergleich zu anderen Kranken insofern in einer besonderen Situation, als sie ihr Lebensende nicht selbst gestalten können. Sie sind darauf angewiesen, dass Angehörige, Pflegende und Ärztinnen und Ärzte ihnen beistehen und ein würdiges Ende ermöglichen.

Die Zürcher ZULIDAD-Studie will dazu beitragen. Die Forschung basiert auf zwei Datenquellen: Zum einen Daten aus Pflegeheimen über Demenzkranke, die seit 15 Jahren halbjährlich erfasst wurden, etwa zum Verlauf der Krankheit, zur Medikamenteneinnahme oder zum Verhalten. Diese Daten beruhen auf Beobachtungen des Pflegepersonals. Zum anderen wurden 126 Demenzkranke von elf städtischen Pflegeheimen und dem privaten Pflegeheim Sonnweid über drei Jahre begleitet. Weil die Demenzkranken selbst keine Auskunft mehr geben können, wurden die Angehörigen und die Pflegenden regelmässig befragt. Dazu füllten sie alle drei Monate einen umfassenden Fragebogen aus. Die Fragen betrafen Lebensqualität und den Gesundheitszustand des Demenzkranken, medizinische Massnahmen und Zufriedenheit der Angehörigen mit der Pflege. Gefragt wurde auch nach den Einstellungen zum Lebensende, so etwa die Befürwortung oder Ablehnung lebensverlängernder oder -verkürzender Massnahmen, zum Umgang mit Schmerzen, Angstzuständen und anderen Leiden.

Zusammenarbeit am runden Tisch

Die Projektgruppe entschied sich zudem für einen neuen Ansatz, um Forschung und Praxis zu verbinden: Einen sogenannten runden Tisch. Ganz im Sinne von Citizen Science, den Bürgerwissenschaften, wollte das Forschungsteam Wissenschaft und Erfahrungen der Angehörigen und Pflegenden zusammenbringen, um zu vermeiden, dass wichtige Aspekte verlorengehen. «Die Forschung profitiert von den Erfahrungen der Praktikerinnen und Praktiker», sagt Stefanie Eicher. Sie hat als Projektleiterin den runden Tisch organisiert und geführt. Angehörige und Pflegende waren an strategischen und wissenschaftlichen Überlegungen und Entscheidungen im Verlauf des Forschungsprojekts beteiligt, so etwa an der Auswahl der Erhebungsinstrumente, der Interpretation von Ergebnissen und der Ausarbeitung des Leitfadens.

Am runden Tisch beteiligt waren etwa 30 Personen: Forschende, Angehörige und Fachpersonen aus der Praxis trafen sich drei bis vier Mal pro Jahr. Für eine konstruktive Zusammenarbeit sorgte Friederike Geray, Leiterin für Fort- und Weiterbildung am Zentrum für Gerontologie, die als Moderatorin die Gruppe begleitete. «Es war mir wichtig, dass alle Beteiligten gleichberechtigt zu Wort kommen und dass auf Augenhöhe kommuniziert wird», sagt Geray. Zu Beginn hätte sich die Gruppe erst finden müssen, doch danach sei die Zusammenarbeit sehr konstruktiv gewesen. Dass aus der gemeinsamen Arbeit ein Leitfaden entstehen sollte, hätte die Arbeit zusätzlich vorangetrieben. Denn gute Literatur zum Lebensende von Demenzkranken gab es bisher kaum.

Leitfaden für Angehörige

Dieser Leitfaden wird nun veröffentlicht. Die zehn Hefte in einer Sammelbox sind alle gleich aufgebaut, zu Wort kommen Angehörige mit ihren Fragen und Erfahrungen, Praktikerinnen und Praktiker mit ihren Erfahrungen und danach wird die Frage aus der Sicht der Forschung beleuchtet. Jedes Heft widmet sich einem Thema. So etwa das Heft über Essen und Trinken. Interessierte erhalten wichtige Hinweise darüber, warum es zu Nahrungsverweigerung kommen kann und wie man damit umgehen sollte. Auch der Umgang mit ethischen Konfliktsituationen ist ein Thema. «Die Sammelhefte geben keine umfassenden Antworten, sie wollen zur Reflexion anregen und Wissen vermitteln», sagt Stefanie Eicher.

* Name geändert