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Slavistik

Blick fürs Verstellte

Die Slavistin Sylvia Sasse wuchs in der DDR auf. Der Staat wollte sie zur Kauffrau machen, sie ging in den Westen und studierte. Heute erforscht sie, wie Performance-Künstler den totalitären Regimes in Osteuropa trotzten.
Simona Ryser
Slavistin Sylvia Sasse: «Jede Epoche hat ihre eigenen Techniken und Verfahren der Geschichtsfälschung.» (Bild: Philipp Rohner)
Slavistin Sylvia Sasse: «Jede Epoche hat ihre eigenen Techniken und Verfahren der Geschichtsfälschung.» (Bild: Philipp Rohner)

 

Sylvia Sasse schiebt Papierstapel zur Seite. In ihrem Büro türmen sich Bücher und Kartonkisten, am Boden liegen Ausstellungsplakate. Die Professorin für Slavische Literaturwissenschaft ist gerade aus Polen zurückgekommen. Dort wurde am Wochenende ihre gemeinsam mit Inke Arns kuratierte Ausstellung «Sturm auf den Winterpalast: Forensik eines Bildes» eröffnet. Zuvor war sie in der Gessnerallee Zürich und im Hart-ware MedienKunstVerein (HMKV) Dortmund zu sehen.

Sasse setzt sich entspannt an den kleinen Bespre-chungstisch. Begeistert erzählt sie von der Ausstellung. Kernstück ist eine Fotografie, die als das Symbolbild der Oktoberrevolution von 1917 gilt und vermeintlich den historischen Sturm auf den Winterpalast zeigt. In Wirk-lichkeit aber wurde das Bild drei Jahre später bei einer inszenierten Nachstellung, einem Massenspektakel für die Jubiläumsfeier, geschossen und dann retouchiert.

Obwohl der Fake unterdessen bekannt ist, kommt es noch immer vor, dass das Bild in Publikationen als «historisches Dokument» ausgegeben wird. Was für ein Beispiel für die Hartnäckigkeit von Fake-News! Sasse nickt. Fake-News sind kein neues Phänomen, früher sprach man von «Retuschen» oder von «Gerüchten». Stets geht es um Desinformation. «Jede Epoche hat ihre eigenen Techniken und Verfahren der Geschichtsfäl-schung», sagt sie.

Keine gesellschaftliche Notwendigkeit

Sylvia Sasse ist als Arbeiterkind in der DDR aufgewach-sen. Eigentlich hatte sie ja Amerikanistik studieren wol-len, doch als sie kurz vor dem Mauerfall – dank einer Geburtstagseinladung ihrer Tante in Selbitz – in den Westen kam und blieb, fürchtete sie, die Englischkennt-nisse aus der DDR könnten nicht ausreichen. Als sie dann an der Universität Konstanz die Vorlesung der renommierten Slavistin Renate Lachmann hörte, fing sie Feuer. Sasse studierte bei Lachmann Slavistik und ging bald darauf für einen einjährigen Studienaufenthalt nach Sankt Petersburg.

Als Kind wollte Sasse Chirurgin werden, doch der Staat verwehrte ihr den Zugang zum allgemeinen Abi-tur. Angeboten wurde ihr die Ausbildung Einzelhan-delskauffrau mit Abitur, aber ohne Biologie. Ein Medi-zinstudium war so nicht mehr möglich. Als sie danach an der Humboldt-Universität HU in Berlin Kulturwis-senschaften studieren wollte, wurde sie mit der Begrün-dung abgewiesen, dafür gebe es «keine gesellschaftliche Notwendigkeit». Sasse lächelt. Mit entsprechender Ge-nugtuung erfüllte sie, dass sie knapp 20 Jahre später, 2005, von derselben Universität als Professorin auf den Lehrstuhl für Ostslawische Literaturen und Kulturen berufen wurde – bevor sie dann dem Ruf an die Univer-sität Zürich folgte.

Kunst im Untergrund

Das Leben in der DDR, dieses ständige Theater, habe ihren Blick geschärft, erzählt Sasse, den Blick für das Verstellte und Inszenierte. So beschäftigt sie sich in einem Forschungsschwerpunkt, für den sie von der EU einen hoch dotierten ERC Consolidator Grant erhielt, mit Performance-Kunst im osteuropäischen Raum von 1950 bis 1990. Sie wollte wissen, wie Künstler der Diktatur trotzten, wie Kunst entstand, die es offiziell nicht geben durfte. Unter den totalitären Regimes gingen die Performance-Künstler in den Untergrund und suchten nach eigenen Strategien. Das Wiederholen, das Nachahmen von offiziellen Ritualen mit kleinen Veränderungen war ein wichtiges Verfahren, sagt Sasse. Sie nennt es subversive Affirmation und schreibt gerade ein Buch dazu. Die polnische Künstlergruppe «Orange Alternative» aus den 1980er-Jahren beispielsweise imitierte den Sturm auf den Winterpalast, der in den osteuropäischen Staaten jedes Jahr pompös gefeiert wurde, in einer Dadaversion – und stürmte die Bar Barbara in Wrocław. Dabei banden sie die eingreifende Polizei gleich mit ein und verliehen ihr den Part der Weissen, die für die Konterrevolution verantwortlich waren.

Tatsächlich wurde bei solchen Aktionen die Geheimpolizei nicht selten unfreiwillige Mitakteurin. In ihrem aktuellen Forschungsprojekt nimmt Sasse nun die Geheimdienste ins Visier. Die Professorin spricht mit sanfter Stimme und voller Elan.

Sie will die Geheimdienstarchive auch als Kunstarchive lesen: Wie weit griffen Geheimdienste selber in Performances ein? Was für Interaktionen mit Künstlern, mit Kunstwerken gab es? Da ist beispielsweise der Fall der Künstlerin Gabriele Stötzer in der DDR. Als sie für eine Fotoserie nach einem Transvestiten suchte, schickte ihr die Stasi kurzerhand selbst einen als Transvestiten getarnten Spitzel – um ihre Karriere negativ zu manipulieren. Hat Sasse selbst eine Akte? Sie nickt. Allerdings sei diese mit den paar Briefen an Freundinnen im Westen unspektakulär. Sasse lehnt sich im Stuhl zurück. Es sei auch für sie persönlich interessant, die DDR über diesen Umweg, über ihre Forschungsarbeit nun noch einmal neu zu lesen.

Sasse ist nicht öffentlichkeitsscheu. Das, was sie in der Lehre und der Forschung mit ihren Studierenden erarbeitet, will sie aus dem Elfenbeinturm hinaustragen. Immer wieder sucht sie die Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen, dem Literaturhaus, der Gessnerallee, dem Cabaret Voltaire. Es geht auch um die Frage, welche Rolle Literatur und Kunst in der Gegenwart spielen. «In einer Ausstellung etwa kann ich Forschungsinhalte nicht nur erklären», sagt Sasse. «Ich kann sie darstellen, inszenieren, etwas anderes zum Vorschein kommen lassen.» Auch das Zentrum für Künste und Kulturtheorie (ZKK), ein Zusammenschluss von Forschenden aus Kunst-, Literatur- und Filmwissenschaften, bei dem Sasse zum Leitungsgremium gehört, sucht den Austausch, die Begegnung mit den Künstlern selbst, deren Arbeiten dann in Work-shops mit kulturtheoretischem Blick untersucht werden.

Auf nach Sankt Petersburg

Oder das Onlinemagazin «Geschichte der Gegenwart», in dem sie gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen kritisch über Themen schreibt, die aktuell in der Luft liegen. Sasse lacht. Das klingt nach viel. Aber die Mutter zweier Kinder sagt, es komme immer darauf an, mit wem man zusammenarbeite. Sie sitze gerne allein am Schreibtisch, aber noch viel lieber arbeite sie gemeinsam mit Kolleginnen, mit denen sie sich gut versteht.

Was steht als Nächstes an? Die Resultate der Untersuchung der Geheimdienstarchive sollen im kommenden Jahr in einer Ausstellung in Dortmund präsentiert werden: «Artists & Agents» heisst sie, Sasse bereitet sie gerade mit ihrer Mitarbeiterin Kata Krasznahorkai gemeinsam vor. Dann fällt Sasses Blick nochmals auf ein Plakat der Ausstellung «Sturm auf den Winterpalast». Sie lacht verschmitzt. Das Ziel sei, die Ausstellung über die Fake-Fotografie 2020 dort zu zeigen, wo das Foto gemacht wurde: in der Ermitage, also im Petersburger Winterpalast – zum 100-Jahr-Jubiläum des Massenspektakels.

Weiterführende Informationen

Links

100 Ways of Thinking.

Sylvia Sasse an der Ausstellung 100 Ways of Thinking