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Das Kino und seine Skandale

Der UZH-Historiker Martin Bürgin forscht zu Kinofilmen, die für Aufruhr sorgten – und bringt die Streifen in einer Filmreihe auch auf die Leinwand.
Adrian Ritter
«Je stärker die Polarisierung und Emotionalisierung gesellschaftlicher Debatten, desto grösser ist die Chance, dass ein Film einen Skandal auszulösen vermag», sagt UZH-Historiker Martin Bürgin (Bild: Nadine Burger)

 

Der Titel klang vergleichsweise harmlos: «Il portiere di notte», der Nachtportier. Inhaltlich aber hatte es der 1974 in Italien erschienene Film in sich: Er zeigte eine sadomasochistische Liebesbeziehung zwischen einem KZ-Aufseher und einer Gefangenen. Die italienischen Behörden verboten den Film – erstaunlicherweise bloss aufgrund einer relativ harmlosen Sex-Szene. Die Filmemacher wehrten sich vor Gericht erfolgreich dagegen. Als der Film schliesslich in verschiedenen Ländern Westeuropas in die Kinos kam, was der Publikumsandrang gross. Die Kritik war dann allerdings ebenso heftig. Bürgerliche Kritiker empörten sich über den Sadomasochismus, KZ-Überlebende monierten die Banalisierung des Holocaust und Linke nahmen das Motiv des Films auf und prangerten die nicht-aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit der Elterngeneration an. Verboten wurde der Film deswegen zwar nirgends mehr, aber der Aufruhr war beachtlich.

Seit das Kino in den 1890er-Jahren entstand, lösten Kinofilme immer wieder Skandale aus. Entweder empörten Filmemacher mit ihren Werken die Behörden, das Publikum – oder beide. Die Behörden schritten zur Zensur, das Publikum beispielsweise zum Leserbrief, zur Demonstration oder bisweilen gar zum Brandsatz, um ein Kino abzufackeln. Auch die Zensur der Behörden trieb bisweilen seltsame Blüten. So waren in der Schweiz in den 1960er-Jahren Filme bisweilen im einen Kanton verboten, in benachbarten Kantonen aber erlaubt. Kinobetreiber organisierten deshalb Busreisen, um Kinogänger aus anderen Kantonen anzulocken.

Zutaten für einen Skandal

Der UZH-Historiker und Religionswissenschaftler Martin Bürgin geht in seiner Forschung Kino-Skandalen nach. Dabei interessieren ihn vor allem der Skandalisierungsprozess und die Rezeption der Filme: Welche Weltbilder prallten aufeinander? Wie entwickelte sich der Skandal? Wie wurde der Film später rezipiert?

Wie viele Filme in der Geschichte des Kinos für einen Skandal gesorgt haben, darüber gibt es gemäss Martin Bürgin keine Übersicht – es zirkulieren unterschiedliche Listen in der Literatur. Inhaltlich ging es in den Filmen zumeist um die Themen Politik, Religion, Gewalt oder Sexualität. «Meist war es eine Kombination dieser Themen, die einen Skandal auslöste», sagt Bürgin. Ein Beispiel ist der 1982 erschienene deutsche Film «Das Liebeskonzil», der sowohl als antikatholische Satire wie auch mit sexuellen Darstellungen provozierte.

Der Film basiert auf einem 1894 erschienenen Theaterstück. Die Handlung: Gott sieht, dass seine Gebote auf der Erde nicht eingehalten werden und will die Menschen dafür bestrafen. Er erlaubt dem Teufel, mittels einer aufreizenden Frauengestalt die Syphilis im Vatikanischen Konzil und von dort aus im Rest der Menschheit zu verbreiten. Das Theaterstück wurde 1894 schnell verboten – der Autor wanderte wegen Blasphemie ein Jahr ins Zuchthaus.

Als rund ein Jahrhundert später der Film erschien, liefen religiöse Gruppen Sturm dagegen. So wurde der Film etwa in Österreich verboten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte wies eine Klage gegen das Verbot 1994 ab und wertete den Schutz religiöser Gefühle höher als die Kunstfreiheit. Der Film ist in Österreich bis heute verboten.

Erst verboten, dann erlaubt und von vielen Seiten kritisiert: Der Film «Il portiere di notte» (Der Nachtportier) sorgte 1974 für Aufsehen. (Bild: Screenshot)

Die Macht der Gerüchte

«Interessant ist, dass die Auseinandersetzung um einen Film oft begann, bevor ihn überhaupt jemand gesehen hatte», sagt Martin Bürgin: «Bisweilen braucht es den Film selber gar nicht für den Skandal. Es reicht die Macht der Gerüchte.»

Insbesondere in den 1960er und 1970er-Jahren sorgten Filmschaffende des Öftern für Skandale. «Es gab einerseits genügend gesellschaftlich als relevant erachtete Tabus und andererseits Filmschaffende, die willig waren, diese zu brechen und geltende Normen zu hinterfragen», sagt Bürgin. Dass Kinofilme heute seltener für Skandale sorgen, habe unter anderem damit zu tun, dass viele Tabus bereits gebrochen sind. Gleichzeitig stellt Bürgin eine zunehmende Ökonomisierung im Filmwesen fest – dies mit gegensätzlichen Auswirkungen. Einerseits führe die Angst vor finanziellen Einbussen an der Kinokasse zu einer Selbstzensur und mehr massentauglichen Filmen. Umgekehrt könne es auch ein Marketinginstrument sein, einen Skandal gezielt herbeizuführen.

Auch in Zeiten von Online-News und globaler Twitterei vermögen Kinofilme gelegentlich für Aufruhr zu sorgen. «Je stärker die Polarisierung und Emotionalisierung gesellschaftlicher Debatten, desto grösser ist die Chance, dass ein Film einen Skandal auszulösen vermag», stellt Bürgin fest. So seien auch heute durchaus skandalträchtige Themen vorhanden, etwa Geschlechterrollen oder weiterhin das Thema Religion. In Westeuropa sorgte etwa der Film «Antichrist» von Lars von Trier 2009 für Aufruhr. In Indien zerstörten Hindu-Nationalisten im Jahr 2000 ein Filmset der Filmemacherin Deepa Mehta, die aus ihrer Sicht religiöse Tabus bricht und den Hinduismus schlecht darstellt. 

Sechsjährige Filmreihe

Martin Bürgin forscht nicht nur zu Filmskandalen, er bringt die Werke in der Filmreihe «royalSCANDALcinema» auch auf die Leinwand. Seit 2015 und noch bis 2021 zeigt das Kulturzentrum Royal in Baden 55 von Bürgin ausgesuchte Werke. Die Bandbreite ist gross: Die Reihe umfasst Filme, die zwischen 1905 und 2009 entstanden und Skandale etwa in der Schweiz, in Afrika oder Asien auslösten.

Zu jedem Film gibt es eine Einführung und nach dem Film Gelegenheit zur Diskussion. Als Referierende hat Martin Bürgin zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der UZH gewinnen können. So werden in den kommenden Monaten etwa der Historiker Jakob Tanner (Die Erschiessung des Landesverräters Ernst S., CH, 1976), die Filmwissenschaftlerin Patricia Pfeifer (Sweet Movie, FR/DE/CA, 1975) und die Anglistin Elisabeth Bronfen (All quiet on the western front, US, 1930) Filme vorstellen.

Der Vorführort ist nicht zufällig gewählt. Das «Royal» war eines der ersten Kinos der Schweiz. Die geplante Eröffnung sorgte 1912 ebenfalls für einen Eklat. Das katholisch-konservative Aargauer Volksblatt lief Sturm gegen «diese Grossstadtpest (...) die Scham ertöten und das Verbrechen verherrlichen» würde. Der Stadtrat verweigerte dem Kino denn auch die Bewilligung. Der Aargauer Regierungsrat allerdings entschied für die Gewerbefreiheit und damit auch für die künstlerische Freiheit – und setzte das Verdikt der Badener Regierung ausser Kraft.