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In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt Japan weltweit als Musterschüler: Ab den späteren 1950er-Jahren blühte die Wirtschaft im Land der aufgehenden Sonne auf. Der Wohlstand für eine breite Bevölkerung wuchs. Die Japanerinnen und Japaner wähnten sich in einer Gesellschaft des «generellen Mittelstands», wie es damals hiess.
Doch nach dem Platzen riesiger Spekulationsblasen Anfang der 1990er-Jahre begann der japanische Wirtschaftsmotor zu stottern. Seither hat sich der Wind im Land gedreht. «Die soziale Ungleichheit wächst zusehends», sagt der sozialwissenschaftlich orientierte Japanologe David Chiavacci, der die gesellschaftliche Entwicklung in Japan untersucht. «Der Wohlstand ist zwar auch heute noch relativ gross, aber an den Rändern beginnt die japanische Gesellschaft zu bröckeln», sagt der Forscher.
Die Folgen der stagnierenden Wirtschaft spüren vor allem jüngere und alte Menschen. Gewachsen ist beispielsweise die Zahl der «atypisch Beschäftigten», die ohne festen Vertrag arbeiten und von den Sozialleistungen ausgeschlossen sind. Für sie steigt das Risiko, in die Armutsfalle zu geraten, deutlich an.
Gewandelt hat sich in der japanischen Gesellschaft auch der Umgang mit alten Menschen. Früher wurden diese von den Familien betreut. «Heute fühlen sich die Angehörigen weniger für die Altenbetreuung zuständig als in der Vergangenheit», sagt David Chiavacci. Damit wächst die Zahl der alten Menschen, die allein und zuweilen unter prekären Umständen leben. Verschärft wird die Problematik dadurch, dass die japanische Gesellschaft generell stark überaltert ist. «Die geburtenstarken Jahrgänge, die zum Erfolg des Landes beigetragen haben, werden heute vermehrt zum Problem», sagt Japanologe Chiavacci.
Die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen der letzten Jahrzehnte haben Kratzer im Selbstbild der Japanerinnen und Japaner hinterlassen. Von einer Gesellschaft des «generellen Mittelstands» spricht heut niemand mehr. Dominant ist dagegen das Bild einer japanischen «Gap-Society», einer Gesellschaft der sozialen Kluft. «Schaut man sich die empirischen Daten an, sind allerdings beide Selbstbilder unzutreffend», sagt Forscher David Chiavacci, «weder stand in der Zeit der wirtschaftlichen Hochkonjunktur alles zum Besten noch sind die sozialen Gräben heute riesengross.» Tatsache ist aber, dass der japanische Mittelstand verunsichert ist und die Haushalte – die traditionell von den Frauen verwaltet werden – etwas knapper bei Kasse sind. Das schürt Verlustängste und stärkt vielleicht die Wahrnehmung der «Gap-Society».
Die japanische Regierung unter dem konservativen Premierminister Shinzo Abe begegnet den ökonomischen und sozialen Probleme des Landes mit einem neoliberal geprägten Wirtschaftsprogramm, den so genannten Abenomics. «Seine Hoffnung und die vieler Japanerinnen und Japaner ist es, wieder an die wirtschaftlichen Erfolge des letzten Jahrhunderts anzuknüpfen und die sozialen Schwierigkeiten durch wirtschaftliches Wachstum aufzufangen», sagt Chiavacci. Die Versprechen mit sozialen Reformen vor allem jüngere Familien und alte Menschen zu unterstützen, hat Abe dagegen bislang noch nicht eingelöst.
«Das Land steht heute an einem Wendepunkt», sagt der Japanologe, «die Frage ist, ob Japan seine Probleme mit Blick zurück und einem straffen Wirtschaftsprogramm oder mit einer zukunftsgerichteten Sozialpolitik zu lösen versucht.» Die Lösung der sozio-ökonomischen Probleme stehe letztlich aber gar nicht im Zentrum der Politik des aktuellen Premierministers, ergänzt David Chiavacci. Abes grösster Wunsch sei es, aus Japan wieder einen «normalen» Staat mit einer schlagkräftigen Armee zu machen. Das Land verfügt seit Ende des Zweiten Weltkriegs über keine eigene Armee mehr, sondern lediglich über so genannte Selbstverteidigungsstreitkräfte.
David Chiavaccis Forschung war Teil des Universitären Forschungsschwerpunktes (UFSP) Asien und Europa, der seit 2006 interdisziplinär die vielfältigen Beziehungen zwischen den beiden Kontinenten in Kultur, Religion, Recht und Gesellschaft in Geschichte und Gegenwart untersuchte. «Das Beispiel Japan zeigt, wie schnell sich die ökonomischen und sozialen Bedingungen in einem Land ändern können», sagt Chiavacci, «aber auch wie robust das Land ist, um diese Veränderungen aufzufangen.» Das sei aus Perspektive der Schweiz, einem Land mit kontinuierlichem Wohlstand und intaktem Arbeitsmarkt, interessant zu beobachten. Denn auch hier könnten sich die Bedingungen einmal schlagartig ändern.
Im August wurde der Universitäre Forschungsschwerpunkt, den David Chiavacci seit 2015 als Co-Direktor leitete, nun abgeschlossen. «Das Projekt hat den wissenschaftlichen Output stimuliert und die Asienforschung an der UZH international besser vernetzt und sichtbar gemacht», sagt der Forscher. Zur erhöhten Sichtbarkeit hat auch das 2013 gegründete Asien-Orient-Institut beigetragen, das Indologie, Islamwissenschaft, Sinologie, Japanologie und Gender Studies unter einem Dach vereint. Zentral für den UFSP war auch das strukturierte Doktoratsprogramm, mit dem hervorragende Nachwuchsforschende gefördert wurden.
Profitiert haben die Forscherinnen und Forscher am UFSP unter anderem von gemeinsamen Projekten, die über die Fächergrenzen hinausgingen. So untersuchte und verglich Japanologe Chiavacci etwa zusammen mit Kolleginnen und Kollegen aus der Ethnologie, Geographie, Islamwissenschaft und Politikwissenschaft, welche Rolle die Sozialen Medien bei den Protesten rund um die Reaktorkatastrophe im japanischen Fukushima 2011 und den arabischen Frühling, der Ende 2010 begann, spielten. Aber nicht nur inhaltlich, sondern auch in Fragen der wissenschaftlichen Methodik konnten die Forschenden voneinander profitieren. «Wir wurden teilweise mit ganz anderen Forschungsansätzen konfrontiert», sagt Chiavacci, «der UFSP Asien und Europa hat uns so auch etwas aus den wissenschaftlichen Komfortzonen geholt.»
Obwohl der UFSP nun zu Ende ist, einiges wird auch bleiben: die Doktoratsprogramme in der Asienforschung etwa sollen weiterhin angeboten und die fächerübergreifende Zusammenarbeit weitergeführt werden. Die Wege am Asien-Orient-Institut sind zumindest kürzer und die Hürden für interdisziplinäre Kooperationen kleiner geworden.