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Rückblickend wirkt das Arbeitsleben, das wir vor 30 Jahren geführt haben, wie ein Film in Slowmotion. Briefe wurden auf Maschinen getippt, die ausschliesslich für das Schreiben gedacht waren, in Kuverts gesteckt und abends vom Hausdienst zur Post gebracht. Nach zwei Tagen war der Brief zugestellt. Auf eine schriftliche Antwort wartete man auch mal wochenlang. Heute schreiben wir in einem Bruchteil dieser Zeit eine Vielzahl an Anfragen, Mitteilungen und Informationen auf unseren Computern.
Die modernen Geräte und neuen Medien erlauben uns, Raum und Zeit zu überlisten, Distanzen zu ignorieren, mehrere Aufgaben gleichzeitig zu erledigen. Wir sparen Zeit, wie wir es uns nie hätten träumen lassen. Eigentlich müssten wir mehr freie Zeit haben, ja es müsste uns langweilig sein. Dem ist nicht so. Im Gegenteil, wir fühlen uns gehetzt. Warum bloss?
Die neuen Medien und die Digitalisierung haben nicht nur viele Arbeitserleichterungen und Annehmlichkeiten mit sich gebracht, sondern auch eine Beschleunigung und einen erhöhten Leistungsdruck. Weil schneller gearbeitet werden kann, ist die Anzahl Aufgaben pro Zeiteinheit erhöht worden. Die Arbeit ist gewissermassen verdichtet worden. Und die Globalisierung macht Druck auf die Unternehmen. Sie müssen Erneuerungen und Entwicklungen rasch umsetzen, um mit der Konkurrenz Schritt zu halten. Dementsprechend ist der Leistungsdruck auch bei den Angestellten gestiegen.
Hinzu kommt, dass wir heute anders arbeiten, wie Martin Kleinmann, Professor für Arbeits- und Organisationspsychologie an der Universität Zürich erklärt: «Früher haben Vorgesetzte über die Köpfe ihrer Angestellten hinweg Entscheide gefällt. Heute sind die Hierarchien flacher.» Woche für Woche werden Mitarbeitende an Sitzungen gebeten. Demokratisch werden sie in Entscheidungsprozesse miteinbezogen – auch da, wo es nicht unbedingt nötig wäre. Die Unternehmungsberatung Bain & Company zeigt in einer Studie (2014) auf, dass Firmen Zeit verschwenden wie keine andere Ressource. So benötigen Mitarbeitende im Schnitt ganze 15 Prozent ihrer Arbeitszeit für Meetings. Und nicht nur das. Zusätzlich müssen täglich unzählige Mails gelesen und bearbeitet werden, da bleibt für die eigentliche Kernarbeit oft nicht mehr viel Zeit übrig. Manager erhalten jährlich bis zu 30000 Mails – in den 1970er-Jahren waren es gerade mal 1000 Briefe, die beantwortet werden mussten.
Wir sind oft frei, wie wir unsere Arbeit gestalten. «Das bedeutet aber auch mehr Selbst- und mehr Zeitmanagement», sagt Martin Kleinmann. Unsere Arbeit ist vielfältig, wir sprechen uns mit unseren Arbeitskollegen ab, wir müssen selber entscheiden, wann und in welcher Reihenfolge wir welche Aufgabe erledigen. Diese Selbstverantwortung, die Organisation und Zeiteinteilung braucht wiederum Zeit und Energie.
Das Lebenstempo ist auch kulturell geprägt. Kleinmann verweist auf die lesenswerte Untersuchung von Robert Levine: «Eine Landkarte der Zeit». Der amerikanische Psychologe unternahm den Versuch, die Lebenstempi verschiedener Kulturen zu messen. In 31 Ländern führte er jeweils vier ausgefallene Experimente durch. So verglich er die Geschwindigkeit, mit der die Fussgänger bei Sonnenschein 20 Meter Gehweg zurücklegten, stoppte wie lange der Kauf einer Briefmarke auf einer Poststelle dauerte und verglich die Genauigkeit öffentlicher Uhren. So konnte er das Lebenstempo in unterschiedlichen Ländern feststellen. An der Spitze der Ranglisten in Sachen Lebenstempo liegen die Schweiz, Deutschland, Japan und Irland, gefolgt von einigen asiatischen Staaten. In nicht industrialisierten Länder in Afrika und Lateinamerika hat man es weniger eilig. Levines Konklusion ist, dass jedes Lebenstempo seine Vor- und Nachteile hat und einen entsprechenden Preis fordert. Das beschleunigte Leben in den hochindustrialisierten Ländern ermöglicht einen hohen Wohlstand. Andererseits scheint an den «schnellen Orten» selbst der Herzschlag schneller getaktet zu sein, so dass die Wahrscheinlichkeit, hier einen Herzinfarkt zu erleiden, erhöht ist.
Oder man übertut sich systematisch bei der Arbeit und brennt aus. Martin Kleinmann verweist auf eine alarmierende Untersuchung des Staatssekretariats für Wirtschaft Seco, die einen starken Anstieg an Erschöpfungen bei Arbeitsnehmern aufzeigt. Die Umfrage besagt, dass sich im Jahre 2000 noch rund ein Viertel häufig oder sehr häufig gestresst gefühlt hat. Zehn Jahre später – nach Einführung des Smartphones – ist es bereits jede dritte Person, die unter Stress leidet. Die psychischen Erkrankungen nehmen entsprechend stark zu. Meist sind solche langwierig und entsprechend teuer.
Der Schweizer HR-Barometer, ein Kooperationsprojekt der Universität Zürich, der ETH Zürich und der Universität Luzern, das regelmässig repräsentativ erfasst, wie Arbeitsnehmende ihre Arbeitssituation wahrnehmen, befasst sich unter anderem mit dem Phänomen des Burnouts. Auch diese Stichproben stellen eine Zunahme bei Angestellten fest. «Je höher das Arbeitspensum und die Arbeitsmenge, desto stärker ist die emotionale Erschöpfung», deutet Anja Feierabend, Projektleiterin des Schweizer HR-Barometer, die -Erhebung.
Gibt es überhaupt bekömmliches Arbeiten? Lässt sich der Teufelskreis durchbrechen? Der Schweizer HR-Barometer deutet auf einen möglichen Ausweg hin: Denn Arbeitnehmende mit Teilzeitpensum klagen weniger über emotionale Erschöpfung. Tatsächlich gebe es einen Trend zur Teilzeitarbeit bei den jüngeren Arbeitnehmern, erklärt Anja Feierabend. Sie ziehen ein 80- oder 90-Prozent-Pensum der Vollzeitarbeit vor. Wenn das Lebenszentrum nicht ausschliesslich in der Arbeit verortet wird, lässt sich auch besser mit der psychischen Gesundheit haushalten, so die Vermutung.
Drei weitere Faktoren, welche die Stressresistenz unterstützen, werden im Schweizer HR-Barometer ersichtlich: Wer Freiräume hat, sich autonom fühlt und seine Karriere in die eigenen Hände nimmt, kann Belastungen besser ertragen. «Möglicherweise hat ein solcher Arbeitnehmer eine gesunde Distanz zum Arbeitgeber und kann sich dadurch besser abgrenzen», sagt Bruno Staffelbach, Professor für Betriebswirtschaftslehre, Mit-Initiator und Herausgeber des Schweizer HR-Barometers.
Und sollte es mit der Arbeitszeitreduktion nicht getan sein – gibt es eine Technik, eine Strategie, wie man die Anforderungen der beschleunigten Arbeitswelt erfolgreich meistern kann? Der Arbeitspsychologe Martin Kleinmann setzt auf Selbstorganisation der Arbeitnehmenden. Die Organisation und das Management des Selbst und der Zeit kann einen Ausweg aus dem Teufelskreis sein, oder zumindest das Tempo stabilisieren und einem eine Verschnaufpause ermöglichen.
Allerdings ist das gar nicht so einfach. Es gibt nämlich einige Faktoren, mit denen wir unser subjektives Zeitgefühl unterlaufen. Ein verbreitetes Phänomen ist etwa, dass wir unterschätzen, wie lange wir für eine bestimmte Aufgabe brauchen. Auch neigen wir dazu, nicht Nein sagen zu können. Kommt eine Kollegin mit der Bitte, das Redigieren eines Dossiers zu übernehmen, sagen wir lieber anstandshalber zu, als an das eigene Zeitbudget zu denken. Ein weiteres Problem ist, dass wir Aufgaben, die wir erst in ferner Zukunft realisieren müssen, eher annehmen, als wenn die Aufgabe unmittelbar bevorstehen würde, obwohl sich der Zeitaufwand genau gleich bleibt. Das A und O sei, die Arbeit einzuteilen, sich kurzfristige und langfristige Ziele zu setzen, sagt Kleinmann. Das kann zum Beispiel am Morgen auf dem Weg zur Arbeit sein, indem man sich einen Tagesplan in die Agenda schreibt oder im Büro, wo an der Wand ein Monats- oder Jahresplaner hängt.
Strategien, wie sich die Zeit managen lässt, sind in der Arbeitswelt erst wenig verbreitet. Doch immer mehr Unternehmen haben die Zeichen der Zeit erkannt und schicken ihre Angestellten in Schulungen und Weiterbildungskurse damit sie Techniken zur Hand zu haben, um sich vor dem steigenden Leistungsdruck zu schützen. In Deutschland gibt es bereits vereinzelt Unternehmen, die es ihren Mitarbeitern nach Arbeitsschluss technisch verunmöglichen, Mails zu beantworten, etwa, BMW, Daimler oder VW – das mag Symptombekämpfung sein, aber immerhin.