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Dialektforschung

Gülleloch, Härdöpfel, Stieregrind

Mundarten sind hipper denn je. Grund dafür sind die sozialen Medien. Mit einem Computerspiel untersuchen Linguisten online, wie wir Dialekte wahrnehmen und was sie uns bedeuten.
Michael T. Ganz
Cover
Um die vielfältigen Schweizer Mundarten einzufangen, gehen Forscherinnen und Forschende sehr kreativ vor.

 

Sie kommt aus Deutschland. Sie lehrt Anglistik. Sie forscht über Schweizer Dialekte. Leises Stirnrunzeln erlaubt, Frau Hundt? «Ich weiss», lacht die blonde Frau mit der randlosen Brille, «eine seltsame Kombination. Dass ich mich als deutschstämmige Anglistin hier in Zürich mit Schwiizertüütsch befasse, hat aber weniger mit meiner Person zu tun als vielmehr mit der Tatsache, dass Zürich punkto Dialektforschung eine uralte Tradition hat.»

Zürich hat die Dialektforschung mitgeprägt. Der Düsseldorfer Sprachwissenschaftler Georg Wenker studierte an der Zürcher Universität, bevor er 1881 den ersten deutschen Sprachatlas herausbrachte. Wenker hatte rund 30000 deutschen Dorfschullehrern 42 kurze «volksthümliche» Beispielsätze vorgelegt und sie gebeten, diese in ihren jeweiligen Dialekt zu übersetzen. Aus den Ergebnissen entstand sein Monumentalwerk, das bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts fortgeschrieben wurde. Die sogenannten Wenker-Sätze gelangten dabei auch in die Schweiz, die Resultate der Umfrage wurden jedoch mangels Interesse nie ausgewertet. Mit dem Schweizer Dialekt befasste sich dann der Thurgauer Linguist Eugen Dieth in den 1940er-Jahren. Er lehrte an der Universität Zürich und war nebenbei als Redaktor des Schweizerischen Idiotikons tätig, eines Dialektwörterbuchs, das die Mundart vom Spätmittelater bis zur Gegenwart dokumentiert und dessen 17. und letzter Band heute – endlich! – der Vollendung entgegengeht.

Und wo lehrte Dieth? Erraten: am hiesigen Englischen Seminar. Nicht nur Zürich hat also Dialektforschungstradition, sondern auch die alte, leicht heruntergekommene, aber bei den Studierenden umso beliebtere spätklassizistische Villa mit Garten an der Plattenstrasse, wo Marianne Hundt, Head of the English Department, das einstige Weihnachtszimmer mit beiger Tapete und Eckkamin als Büro nutzt.

Forschung mit Spassfaktor

Am Englischen Seminar ist auch das Zürcher Kompetenzzentrum Linguistik angesiedelt, das sich mit der Schweizer Dialektologie beschäftigt und dessen Vorsitz Marianne Hundt innehat. Es wurde 2011 gegründet mit dem Zweck, die Zürcher Linguistinnen und Linguisten zu vernetzen und auf niederschwellige Art «sprachwissenschaftliche Inhalte in die Bevölkerung zu transportieren», wie Hundt es formuliert. Letzteres gelingt dem Zentrum mit dem zurzeit populärsten Transportmittel der Kommunikationswelt, einer App. «Tour de Suisse: din dialäkt» heisst das Online-Spiel, welches das Team um Marianne Hundt in einjähriger Arbeit entwickelt hat.

Das Mitspielen macht Spass. Im ersten Level höre ich Dialektsätze und muss sie einem Kantonvon fünf vorgeschlagenen Kantonen zuordnen. Appenzell kontra Wallis ist kein Problem, bei Luzern und Nidwalden wirds kniffliger. Im zweiten Level fehlt die Auswahl, ich muss den Punkt auf der Schweizer Karte selber setzen. Bern Stadt oder Oberland? Je näher an der richtigen Antwort mein Punkt liegt, desto mehr Kreditpunkte kann ich sammeln. Im dritten Level werde ich gebeten, Dialektsätze so zu verschriftlichen, wie ich sie höre – kein leichtes Unterfangen, sind doch einige der Hörbeispiele historisch und mit Wörtern und Wendungen gespickt, die man heute kaum noch kennt. Immerhin lädt mich «Tour de Suisse: din dialäkt» freundlich ein, solche und andere Probleme in einem Forum zu diskutieren. Und irgendwann im Spiel bittet mich die App dann auch, ein paar wenige persönliche Dinge preiszugeben, etwa mein Alter, meine Herkunft, meine Muttersprache und wie ich Dialekt im Alltag verwende.

Nach einem Monat Laufzeit hatte die App rund 5000 registrierte Gäste und gut 300000 verortete Dialektproben. «Wir hoffen auf den Schneeballeffekt, um noch möglichst viele Spielerinnen und Spieler zu gewinnen», sagt Marianne Hundt. Denn freilich geht es den Dialektforschern bei der Sache nicht nur um Spiel und Spass. Sie sind auf Datenjagd. Und dafür eignet sich die App bestens. Die Antworten der Spieler werden gesammelt und ausgewertet. Sie sollen gleich zwei Kernfragen beantworten: Woran und wie gut erkennen wir Schweizerinnen und Schweizer unsere Dialekte? Und in welcher Schreibweise bringen wir sie zu Papier? «Tour de Suisse: din dialäkt» bedient sich dabei jener Methodik, die man Citizen Science – zu deutsch etwa Bürgerwissenschaft – nennt.

Citizen Science nutzt die Neugier und Bereitschaft interessierter Laien und bietet Forschenden die Möglichkeit, mit vertretbarem Aufwand grosse Datenmengen zu sammeln. Prominente Beispiele sind Vogelzählungen für die biologische Forschung oder Beobachtungen von Himmelserscheinungen in der Astrophysik.

Website
Spass und Wissenschaft: Auf der Website www.dindialaekt.ch können Besucherinnen und Besucher sich spielerisch mit der Mundart auseinandersetzen. Damit helfen sie auch der Forschung.

Alpentäler und Suburbs

«Im 19. Jahrhundert», sagt Marianne Hundt, «war Angst eine der Motivationen für die Dialektforschung. Angst davor, dass Dialekte aussterben könnten. Deshalb wollte man diese kartieren und dokumentieren. Wir vom Kompetenzzentrum wollen keine Atlanten und Idiotika mehr publizieren. Uns geht es um die Wahrnehmung von Dialekten. Wie und was wird überhaupt als Dialekt erlebt? Jeder und jede denkt doch: Ich selbst spreche normal, nur der andere spricht anders.» Hundts Forschungsansatz nennt sich Wahrnehmungsdialektologie, kommt aus den USA und ist vergleichsweise jung. Er bewegt sich irgendwo zwischen Soziolinguistik, Sozialpsychologie und Ethnologie. Wahrnehmungsdialektologen interessieren sich weniger für die räumlich-geografischen als vielmehr für die subjektiven Grenzen zwischen den Dialekten. Denn Dialekte dienten und dienen auch heute noch der Abgrenzung zwischen Gruppen und Individuen, mithin also der Identitätsbildung. Das gilt nicht nur für die Schweiz mit ihren engen Alpentälern, wo die verschiedenen Dialekte vor allem als Ausprägung regionaler Identität wahrgenommen werden. Auch in England, wo man Dialekte eher den sozialen Schichten zuordnet, geht es letztlich um Gruppenzugehörigkeit, sprich Identität.

Einst liess sich anhand der Sprache verorten, wer ins eigene und wer ins Nachbardorf, wer in die Londoner City und wer in die Suburbs gehörte. Mit zunehmender Mobilität ist diese kleinräumige Sprachverortung unbedeutender und vor allem schwieriger geworden; die Dialektgrenzen sind heute weniger statisch als vielmehr dynamisch. Nimmt die Bedeutung von Dialekten mit der Mobilität also ab? «Ganz und gar nicht», sagt Marianne Hundt. «Wer aus dem Berner Oberland nach Zürich zieht, will sich zwar integrieren, seine Identität aber trotzdem nicht verlieren. Und da spielt der Dialekt eine wichtige Rolle.»

Dialekte wandeln sich

Für Marianne Hundt ist klar: Die Angst vor einer Verwässerung unserer Dialekte ist selbst bei zunehmender Mobilität unbegründet. Wer pendelt oder umzieht, wirft seinen Dialekt nicht über Bord. «Ich vergleiche das jeweils mit Musikinstrumenten», erklärt Hundt. «Zu Hause im dörflichen Musikverein spielt einer die Trompete. Dann zieht er in die Stadt und sattelt auf Flöte oder Saxofon um. Aber sobald er zurück im Dorf ist, holt er wieder seine Trompete hervor.» Auch die Zuwanderung von Menschen fremder Muttersprache sei keine Bedrohung für die Schweizer Mundart, wie es oft zu hören sei. «Der sogenannte Jugo-Talk, wie wir ihn in der Schweiz seit einigen Jahren kennen, ist einfach ein weiteres Musikinstrument. Genau wie das Türkendeutsch in meiner Heimat. Dialekte wandeln sich, und Wandel ist kein Zerfall.»

Ein Hoch aufs Handy

Im Gegenteil: Mundart ist hipper denn je. Mit den sozialen Medien erlebt sie eine Renaissance, und zwar in ihrer eher unüblichen schriftlichen Form. Junge Deutschschweizer und -schweizerinnen schreiben SMS, Facebook-Nachrichten und WhatsApp-Messages nicht in der Schriftsprache, sondern im Dialekt. «Hei, mr gsehnd öis am sächsi i dr Badi, okey?» – «Supi, de Ste und d Manu chömed imfall au.» So geht das millionenfach hin und her. Und warum Mundart, wenn deren Wörter doch oft länger und mühsamer zu tippen sind als die schriftsprachlichen Pendants und zudem jedes Autokorrekturprogramm unbrauchbar machen? «Wir sprechen Dialekt, weil wir uns im Dialekt wohler fühen», erklärt Marianne Hundt. «Dialekt ist nähersprachlich, wie wir Linguisten sagen. Man spricht mit seinen Schweizer Freunden ja auch nicht Hochdeutsch, man will sich ja nicht künstlich distanzieren. Und genau dasselbe gilt für SMS und Social Media.»

Besorgte Eltern, Mundartpäpste und Kulturpessimisten, lasst euch sagen: Das Smartphone ist ein wertvolles Mittel zur Erhaltung unserer Dialekte. Oder wie Marianne Hundt es formuliert: «Auf diese Weise wird Dialekt heute öffentlich verhandelt. Und vielleicht ergibt sich daraus irgendwann eine gewisse Fokussierung, was die Dialektschreibung betrifft. Die Technik und ihre Nutzung passen sich stets den Bedürfnissen an. Deshalb stimmt auch die Behauptung nicht, der mundartliche Nachrichtenaustausch sei schädlich für die Hochdeutschkompetenz.»

Woher dieser ungebremste Optimismus, Frau Hundt? «Ich will Angst vor Veränderung abbauen und eine gewisse Lässigkeit im Umgang mit Sprache vermitteln.» Sie selbst sei sozusagen dialektfrei aufgewachsen, in einer Stadt in Niedersachsen, die keinen lokalen Dialekt kannte. «Wir sprachen ein lokal weitgehend neutrales Deutsch.» Als Hundt zum Studium nach Baden-Württemberg ging, wo das Badische den Ton angibt, musste sie feststellen, dass sie nirgends verankert war. «Mir fehlte die regionale sprachliche Identität. Und das ist wohl der Grund, warum ich mich heute für Dialekte interessiere.» Besonders auch für Schweizer Dialekte. Denn in Baden-Württem berg befand sich Hundt bereits im alemannischen Sprachraum, zu dem auch die Schweiz gehört.

Bis März 2018 noch soll «Tour de Suisse: din dialäkt» im App Store bleiben, dann ist die Jagd zu Ende. Das Zürcher Kompetenzzentrum Linguistik wird die harten und die weichen Daten – also Verortungen, Schreibweisen und Soziales – auswerten und die Ergebnisse allen Interessierten zur Verfügung stellen. Marianne Hundt hofft, dass die Daten Eingang in möglichst viele Masterarbeiten, Dissertationen und andere Qualifikationsschriften finden. Damit der öffentliche Diskurs über den Wert der Dialekte weitergeht.

Weiterführende Informationen

UZH Magazin

Dieser Artikel erschien im neuen UZH Magazin 3/17.

Talk im Turm

Am nächsten Talk im Turm vom 1. September 2017 «Gülleloch und schnelle Klicks. Was Daten uns verraten» diskutiert Marianne Hundt mit dem Soziologen Patrik Ettinger.

 

Für die Veranstaltung sind noch Plätze frei.