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Auf Skiern und mit Hundeschlitten ausgerüstet überquerte die Expedition des Schweizer Meteorologen Alfred de Quervain im Sommer 1912 das Inlandeis Grönlands. De Quervain, dessen erste Grönlandexpedition von 1909 datiert, bewältigte von der West- an die Ostküste eine Distanz von 500 Kilometern – das hatte vor ihm noch kein anderer Polarforscher geschafft.
Auch wissenschaftlich heimsten der 33-Jährige und seine drei Schweizer Begleiter einen Erfolg ein, gelang es ihnen doch, ein Höhenprofil der grönländischen Gletscher anzufertigen. Dass ihre Expedition weltweit für Aufsehen sorgte, erstaunt nicht: Grönland stand damals im Brennpunkt des kolonialen Wettlaufs um Bodenschätze und neue Territorien. In Afrika waren die Gebiete weitgehend verteilt. Nun galt es, die grösste Insel der Erde, die zu vier Fünfteln von Eis bedeckt ist, zu erobern.
Völkerrechtlich waren die Ansprüche auf Grönland zu jenem Zeitpunkt ungeklärt. Die USA erhoben Anspruch auf Teile im Norden für sich, Westgrönland war seit knapp 200 Jahren in dänischer Hand. «Die Expedition fand denn auch in enger Zusammenarbeit mit den Kolonialbeamten Dänemarks statt», sagt Lea Pfäffli, Doktorandin am ETH-Lehrstuhl für Technikgeschichte und Mitglied im Graduiertenkolleg «Zentrum Geschichte des Wissens» von UZH und ETHZ. Die Dänen stellten Expeditionsausrüstung, Übernachtungsmöglichkeiten und andere logistische Hilfe zur Verfügung, im Gegenzug sicherten sie sich den raschen Zugang zu den gewonnenen geologischen und glaziologischen Erkenntnissen. Noch bevor de Quervain und seine Forscherkollegen zurück nach Zürich reisten, machten sie dem König in Kopenhagen ihre Aufwartung, um ihm Bericht zu erstatten.
«Wissen ist Macht – gerade auch bei der Kolonialisierung von Ländern», hält die Wissenshistorikerin fest. Die Schweiz habe zwar keine Territorien besetzt – dennoch komme ihr dank der herausragenden Stellung in Botanik, Geologie, Zoologie oder anderen naturwissenschaftlichen Disziplinen eine spezielle Rolle im Denksystem des Kolonialismus zu. Die Schweizer Grönland-Forscher beteiligten sich auch an der kolonial geprägten Rassenwissenschaft. Sie brachen Grabstätten auf, um Inuit-Schädel zur Vermessung in die Schweiz zu bringen.
Auf welche Weise haben sich Wissenschaft und Kolonialismus gegenseitig beeinflusst? Dieser Frage ist Pfäffli im Nachlass der beiden Expeditionen von 1909 und 1912/13 nachgegangen. Sie wertete eine Fülle von Materialien wie Verträge, Reisetagebücher, handkolorierte Fotografien oder Filmaufnahmen aus. Ihr Fazit: Die Schweizer Forscher seien durchaus dem wissenschaftlichen Ethos verpflichtet, ihr Denksystem aber auch durch koloniale Ideologien geprägt gewesen.
Ausgangspunkt für ihren Beitrag in der Ausstellung «Transactions» sind die Menschen Grönlands. Vitus Petersen zum Beispiel: Er arbeitete als Lotse für die Schweizer Expedition und erhielt 57 Kronen. Nils Magnussen, Pile Jacobssen, Gabriel Knudssen und Jan Christenssen verdienten als Träger zwischen 22 und 113 Kronen. Andere boten Schlittenhunde und Futter feil, waren als Träger, Lotsen oder Köche tätig, die Frauen verkauften auch Intimität und Sex. Die Spurensuche macht deutlich: Die einheimische Bevölkerung war nicht einzig Opfer des kolonialen Systems, sondern konnte auch selbstbestimmt Entscheidungen treffen. Sie feilschten um Preise, und wenn ein Walfangboot anlegte und andere Arbeitsmöglichkeiten anbot, wurden auch die Löhne rasch in die Höhe getrieben.