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Zu Lebzeiten wusste Gottfried Keller mit Bestimmtheit, was er nicht sein wollte: ein Schweizer Dichter. Die Idee einer Schweizer Nationalliteratur hielt er für provinziell und tat sie als «Alpenrosenpoesie» ab. Wie die meisten anderen Schweizer Autoren seiner Zeit definierte er sich über eine doppelte Zugehörigkeit zur Schweiz als politischer Nation einerseits und zur deutschen «Geistescultur» andererseits.
Das hat nicht verhindert, dass Keller postum zum Schweizer Nationaldichter stilisiert und als Vorläufer einer reaktionären Heimatdichtung vereinnahmt wurde. Den Anfang dieser Mythologisierung wider Willen machte C. F. Meyer, der Keller in einem Nachruf als «Schutzgeist der Heimat» bezeichnete. Doch die Etikettierung Kellers als Schweizer Nationaldichter sei keine Auszeichnung, sondern stelle ihn «in den Schatten», erklärt Ursula Amrein, Professorin am Deutschen Seminar der UZH. Keller war eben gerade kein Alpenrosenpoet, Keller war einer der grossen Dichter der deutschen Sprache in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Diesen grossen, vielseitigen, streitbaren und streitlustigen, zuerst immer wieder scheiternden und am Schluss grandios erfolgreichen Schriftsteller, Patrioten, Atheisten und Melancholiker Gottfried Keller rückt Ursula Amrein jetzt ins rechte Licht – mit dem von ihr herausgegebenen Handbuch «Gottfried Keller. Leben – Werk – Wirkung». Die Grundlage dazu lieferte die «Historisch-kritische Gottfried-Keller-Ausgabe», zu deren Herausgebern Amrein zeitweilig gehörte und die 2013 abgeschlossen wurde.
Ja, Gottfried Kellers Leben war über lange Zeit geprägt von unglücklichen Wendungen und gescheiterten Ambitionen. Als der 1819 geborene Keller fünf Jahre alt war, starb sein Vater, ein erfolgreicher und politisch engagierter Drechslermeister, später wurde die zweite Ehe seiner Mutter mit dem ersten Gesellen der väterlichen Werkstatt gerichtlich geschieden. Im selben Jahr wurde Keller als vermeintlicher Rädelsführer eines Schüleraufstands gegen einen missliebigen Lehrer von der Schule verwiesen. Ein Entscheid, der für ihn der «Todesstrafe» gleichkam. Zeitlebens litt er unter dem Gefühl seiner «verhunzten» Bildung. Seinen ersten Berufswunsch, Landschaftsmaler zu werden, konnte er nicht verwirklichen – er ging nach München um zu studieren, frequentierte aber stattdessen die Kneipen und kehrte 1842 nach zwei Jahren erfolg- und mittellos in die Schweiz zurück. Kellers erster Anlauf als Künstler war gescheitert.
Die Wende brachte ein eigentliches Erweckungserlebnis: Zurück in Zürich las Keller die revolutionären Schriften von deutschen Emigranten wie Georg Herwegh (1817 – 1875), die ihn zum Schluss brachten, sich «dem Kampfe für die völlige Unabhängigkeit und Freiheit des Geistes und der religiösen Ansichten in die Arme zu werfen». Solcherart beflügelt, wandte sich Keller dem Schreiben zu und verfasste politische Gedichte wie «Sie kommen, die Jesuiten!».
Keller nahm an zwei Freischarenzügen gegen Luzern teil und trat als politischer Publizist in Erscheinung. Die politische Agitation verschaffte ihm die Aufmerksamkeit der liberalen Kreise in Zürich, die ihn mit einem Stipendium förderten, das ihm erlaubte, zuerst in Heidelberg und dann in Berlin zu studieren.
In Heidelberg lernte Keller als rund Dreissigjähriger den deutschen Religionsphilosophen Ludwig Feuerbach kennen, einen vehementen Verfechter des Atheismus, der auch Keller überzeugte. «Feuerbach besiegelte Kellers diesseitsbezogene Anthropologie, die mit der Politisierung Anfang der 1840er-Jahre eingesetzt hatte», schreibt dazu Michael Andermatt im Keller-Handbuch. Kellers Schluss aus der Vorstellung einer Welt ohne Gott war, dass man als Mensch nur ein Leben hat und nichts im Jenseits nachgeholt oder kompensiert werden kann. Sein künstlerisches Schaffen ist deshalb geprägt von einer radikalen Diesseitsorientierung.
Den spätberufenen Studenten Keller hielt es nicht lange im beschaulichen Heidelberg. Nach zwei Jahren zog er weiter nach Berlin, wo er als Dramatiker reüssieren wollte und sich deshalb gleich gegenüber dem Staatstheater einquartierte. Auch dieser Plan scheiterte. Trotzdem legte Keller in seiner Berliner Zeit den Grundstein für seine späteren Erfolge: Er arbeitete an der ersten Fassung des «Grünen Heinrich», am ersten Band der «Leute von Seldwyla» und weiteren Prosaprojekten, die erst nach seiner Zeit als Staatsschreiber publiziert wurden. In Berlin wurde der Lyriker zu dem Roman- und Novellenautor, der später zu Weltruhm gelangte.
Vorderhand sah es noch nicht danach aus. Als die mehrmals verlängerten Stipendien aus Zürich ausblieben, versank Keller erneut in Schulden, worauf in Zürich liberale Kreise um Alfred Escher und den späteren Bundesrat Jakob Dubs eine «Gottfried-Keller-Aktie» herausgaben, mit der die Schulden teilweise getilgt werden konnten.
Doch Keller machte es seinen Förderern und Freunden nicht einfach. Er lehnte das Angebot einer Professur am neu gegründeten Polytechnikum in Zürich (heute ETH) ab, weil ihm die Arbeitslast zu gross schien. Erst mit seiner Ernennung zum Staatsschreiber des Kantons Zürich 1861 (Keller war 42-jährig) war er seine finanziellen Sorgen los. Keller versah dieses Amt während 16 Jahren gewissenhaft, obwohl er an seinem ersten Arbeitstag nach einem Besäufnis mit anschliessender Prügelei von einem Regierungsrat aus dem Bett geholt werden musste. Während dieser Zeit versiegte allerdings Kellers literarische Produktion.
Kellers grosse literarischen Erfolge, die auch seinen Nachruhm begründeten, setzten 1871 ein – noch während seiner Zeit als Staatsschreiber – mit dem Wiederabdruck von «Romeo und Julia auf dem Dorfe» in der Anthologie «Deutscher Novellenschatz». Die Anthologie machte Keller auch in Deutschland bekannt als «grossen, bislang zu wenig gewürdigten Novellisten» (Andermatt) und adelte ihn als «Shakespeare der Novelle». Durch den Erfolg ermutigt, publizierte Keller die «Sieben Legenden» – ein älteres Manuskript, das jahrelang in der Schublade vor sich hin gedämmert hatte, und begann an der Fortsetzung der «Leute von Seldwyla» zu arbeiten.
Nun stellte sich der Erfolg ein. Das erlaubte ihm, 1876 seine Stelle als Staatsschreiber aufzugeben und bis zu seinem Tod 1890 als freier und nun gefeierter Schriftsteller zu leben. Kellers Ruhm kulminierte in den Feierlichkeiten zu seinem siebzigsten Geburtstag, denen er entfloh, und schliesslich in seiner Beerdigung rund ein Jahr später, bei der «ganz Zürich auf den Beinen und an den Fenstern war».
Der sperrige Dichter wurde mit einem eigentlichen Staatsbegräbnis gewürdigt. Keller galt zu diesem Zeitpunkt als «herausragender Dichter deutscher Sprache und zugleich als Repräsentant der kulturellen und politischen Schweiz nach 1848», sagt Ursula Amrein.
Mit der pompösen Abdankungsfeier, den Nachrufen und Würdigungen begann auch Kellers «Vergötzung» (Carl Spitteler). Er musste postum allerhand Deutungen über sich ergehen lassen, gegen die er sich nun nicht mehr zu Wehr setzen konnte. So wurde er etwa als Vorläufer der antimodernen Heimatliteratur vereinnahmt, durch C. F. Meyer zum «Schutzgeist» stilisiert, und schliesslich bei den Gedenkfeiern zu seinem 100. Geburtstag 1919 und seinem 50. Todestag 1940 als Nationaldichter belobigt. Beide Anlässe fielen in eine Zeit nationalistischer Selbstvergewisserung der Schweiz.
Ironischerweise erkannten nicht nur die Antimodernisten, sondern auch die Autoren der Moderne und die Naturalisten in Keller einen ihrer Vorläufer. Der Dichter des «Grünen Heinrich» landete zudem auf der Couch der Psychoanalytiker. Das von Sigmund Freud herausgegebene Journal «Imago» publizierte 1916 die Studie «Gottfried Keller. Psychoanalytische Behauptungen und Vermutungen über sein Wesen und sein Werk».
Darin wird Kellers Werk als Kompensation für ein verfehltes Leben gelesen mit inzestuöser Mutterbeziehung und «schmerzlichem Bewusstsein körperlicher Minderwertigkeit» des «grossköpfigen Zwergs». Keller hätte den Verfasser der Studie wohl in eine wüste Schlägerei verwickelt, wenn er noch gelebt hätte.
Ursula Amrein zeichnet Kellers Nachleben und die damit verbundenen Deutungskontroversen bis in die 1940er-Jahre detailliert nach. Für sie ist klar, dass die «zählebigen Stereotype» der Keller-Deutung bis heute «einer verharmlosenden und verfälschenden Lektüre Vorschub leisten». Das Keller-Handbuch soll hier Gegensteuer geben und Keller als den Dichter erkenn- und lesbar machen, wie Amrein ihn sieht: als poetischen Realisten, der seine Gegenwart mit dem Allgemeingültigen und Idealen verschränkte, oder, um es mit Kellers eigenen Worten auszudrücken, «in der gemeinen Wirklichkeit eine schönere Welt wiederherzustellen durch die Schrift». Mit Beschönigung und Verharmlosung habe das nichts zu tun, sagt Ursula Amrein. «In Kellers Geschichten blitzt immer wieder eine hintersinnige und kaum zu bändigende Phantasie auf.»
Das Handbuch stellt Keller in seinen zeitgenössischen historischen Kontext. Dazu gehört, dass Keller nicht nur als Romanautor und Meister der Novelle gezeigt wird, sondern auch als Lyriker, gescheiterter Dramatiker, als Maler, politischer Heisssporn, gut vernetzter Intellektueller, als Sohn, der lange, lange am (finanziellen) Rockzipfel seiner Mutter hing, und – eher en passant – als glückloser Verehrer.
Ursula Amrein und die anderen Keller-Spezialisten machen in ihren sorgfältig recherchierten und eingängig geschriebenen Beiträgen Kellers künstlerische Entwicklung und seine Karriere nachvollziehbar und ermöglichen einen neuen Blick auf den Nationaldichter wider Willen, der nun in neuen Kleidern vor uns steht, doch recht verheissungsvoll und prächtig, und uns einlädt, ihn wieder zu lesen.