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Die sprachliche Situation der Deutschschweiz ist bekanntlich eine besondere. Dialekte und Hochsprache werden hier scharf voneinander geschieden. Umgangssprachliche Mischungen und Verwischungen, wie sie in Deutschland und Österreich gang und gäbe sind, sind in der Deutschschweiz nicht vorgesehen. Die Mundarten geniessen ein hohes Prestige und haben sich hier als alleinige Form der Umgangssprache behauptet. Sie gelten als Sprache des Herzens, bringen regionale Identität und nationale Zugehörigkeit zum Ausdruck, stehen für Authentizität, Gefühlswärme, für Humor und Phantasie, für Nähe und Spontaneität.
Schwerer hat es das Hochdeutsche in der Schweiz. Man nutzt es – oft widerwillig – als Mittel zum Zweck, identifiziert sich aber selten damit. Viele bringen es in Verbindung mit schulischem Drill, Verboten und Kontrolle, Strammstehen, Hackenzusammenschlagen und kaltem Schweiss. Häufig behaupten Deutschschweizerinnen und Deutschschweizer, sich unwohl und fremdbestimmt zu fühlen, wenn sie vom Hochdeutschen Gebrauch machen.
Die Sprachwissenschaft hat einiges zum trüben BIld des Hochdeutschen beigetragen, indem sie ihm die an Lieblosigkeit kaum zu überbietende Bezeichnung «Standarddeutsch» aufgedrückt und damit die Normung zu seinem Hauptmerkmal erklärt hat.
Inzwischen aber ist in der Sprachwissenschaft einiges in Bewegung gekommen, das eine Imagekorrektur des Standarddeutschen erhoffen lässt. Seit einiger Zeit nämlich wächst in der Linguistik das Interesse am exakten Gegenteil jeder Einheitsnorm: der Varianz. Das 2004 erschienene «Variantenwörterbuch des Deutschen» sowie eine wachsende Zahl von Studien zur Variantenbildung zeigen, dass die Standardsprache viel anarchischer, lebendiger und wandelbarer ist, als ihr Name glauben macht.
Auf der Wortschatzebene – der Lexik – sind solche regionalen Varianten bisher am ehesten bekannt und auch am besten erforscht. So spricht man in der Schweiz von Unterbrüchen statt Unterbrechungen oder von Türfallen statt von Türklinken. Was in Norddeutschland modderig ist, ist in Bayern und Österreich batzig, und in der Schweiz sowie in den meisten Gebieten Deutschlands ist standardsprachlich das Wort pampig in Gebrauch.
Weniger bekannt und erforscht war bisher, wie gross der Variantenreichtum der Standardsprache in grammatikalischer Hinsicht ist. Das ändert sich gerade. Denn seit vier Jahren erforscht ein international zusammengesetztes Team im Rahmen des grossangelegten Forschungsprojekts «Variantengrammatik des Standarddeutschen» an den Universitäten Zürich, Salzburg und Graz die grammatikalische Vielfalt innerhalb der geschriebenen deutschen Standardsprache.
Es ist das erste Mal überhaupt, dass die grammatikalischen Varianten und ihre regionale Verbreitung systematisch erfasst und dokumentiert werden. Die Basis der Untersuchung ist ein Datenkorpus mit über 570 Millionen Wortformen. Nach drei Jahren Aufbauzeit wurde es 2013 fertiggestellt. Das Korpus setzt sich aus den online publizierten Artikeln der Lokalressorts von 68 Zeitungen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Liechtenstein, Südtirol, Belgien und Luxemburg zusammen. Texte, in denen Annäherungen an die mündliche Sprache zu erwarten sind, etwa Blogs, Internetforen oder Chaträume, wurden nicht berücksichtigt. Die Untersuchung dient nämlich ausdrücklich der geschriebenen Standardsprache.
Gegenwärtig wird dieses Korpus mithilfe avancierter computerlinguistischer Abfragemethoden auf die grammatikalischen Phänomenbereiche Flexion, Artikelgebrauch, Genus, Wortbildung, Wort-und Satzstellung, Phraseologismen und Kasuszuweisungen hin analysiert. Co-Leiterin des Projekts ist Christa Dürscheid, Professorin für Deutsche Sprachwissenschaft an der UZH. Um die Befunde aus der Korpusauswertung sowohl der Wissenschaft als auch einem breiteren Publikum zugänglich zu machen, verfasst das Projektteam zurzeit ein Online-Nachschlagewerk.
Die einzelnen, multimodular aufgebauten Einträge sind untereinander verlinkt und mit der Möglichkeit zur Belegeinsicht versehen. Kartografische Darstellungen veranschaulichen die geografische Verbreitung der jeweiligen Varianten. So kann man zum Beispiel mit einem Blick erkennen, wo der Plural von Tunnel mit einem «s» markiert wird und wo nicht: Im Südtirol, in der Schweiz und in Luxemburg fährt man «durch viele Tunnels», in Nord- und Mitteldeutschland hingegen «durch viele Tunnel», und in Österreich und Süddeutschland sind beide Varianten gebräuchlich.
Man kann sich nun natürlich fragen, ob grammatikalische Vielfalt überhaupt wünschenswert und darstellenswert sei. Den bunten Formenreichtum des Wortschatzes lässt man sich gern gefallen, die Uneinheitlichkeit grammatikalischer Phänomene dagegen verursacht manchmal Kopfschmerzen. Schreibt man nun die E-Mail oder das E-Mail? Durchweg oder durchwegs? Wären konsequente Normen gerade für Lernende und Lehrende nicht praktischer als ausführliche empirische Beschreibungen der gelebten sprachlichen Realität?
Christa Dürscheid weist diesen Einwand zurück. «Die Vitalität einer Sprache», sagt sie, «liegt in ihrem Variantenreichtum. Sprache entwickelt sich weiter, häutet und verändert sich, indem sie ständig neue Varianten hervorbringt und ausprobiert.»
Die grossangelegte Studie füllt eine grosse Lücke in der Beschreibung der deutschen Grammatik. Bisher gab es nämlich keine verlässlichen und systematischen Erkenntnisse dazu, ob eine grammatikalische Variante zum sprachlichen Standard gehört oder nicht. Auf Normen allein kann man sich bei einer solchen Bestimmung nicht stützen, da die Grammatik des Deutschen entgegen der landläufigen Vorstellung viel weniger durchreglementiert ist als zum Beispiel die Orthografie. Was wo als standardsprachlich gilt, ist meist eine Frage des Gebrauchs. Um eine haltbare Aussage darüber zu machen, ob eine Variante in einer Region zur standardsprachlichen Konvention gehört oder nicht, muss man deshalb zuerst herausfinden, wie häufig sie in standardsprachlichen Situationen verwendet wird.
Solche statistischen Befunde aber existierten bisher nicht, weshalb man die Angaben zu grammatikalischen Varianten in den einschlägigen Nachschlagewerken mit Vorsicht geniessen muss: Sie sind weder vollständig noch empirisch erhärtet. Wer zum Beispiel etwas darüber erfahren will, wie es um die Genitiv-Varianten des Wortes Prototyp bestelllt ist, findet im Duden nur eine Form: nämlich des Prototyps. Die andere Variante – des Protoypen – wird nicht genannt. Zu Unrecht, wie die statistische Untersuchung zeigt: Die zweite Genitiv-Variante kommt nämlich fast so häufig vor wie die erste. Gemäss der Variantengrammatik darf sie als standardsprachlich gelten, auch wenn sie nicht im Duden verzeichnet ist.
Das Beispiel zeigt, wie die Variantengrammatik vorgeht: Sie entscheidet nicht normativ, was richtig oder falsch ist, sondern bringt mithilfe statistischer Daten ans Licht, welche grammatikalischen Konstruktionen als standardsprachlich gelten können und welche nicht. Nachschlagewerke wie der Duden werden zukünftig dank dieser empirischen Befunde wesentlich fundiertere Angaben zu grammatikalischen Varianten machen können als bisher.
Darüber hinaus hofft Christa Dürscheid auf einen grundsätzlichen Perspektivenwechsel im Umgang mit Varianten – im Duden genauso wie im allgemeinen Sprachbewusstsein. Bisher dominierte nämlich die Auffassung, Varianten seien blosse Abweichungen von einer (in der Regel norddeutschen) Normvariante. Das Forschungsprojekt Variantengrammatik sieht dagegen die Alternativen konsequent als gleichwertig an, was von einiger sprachpolitischer Brisanz ist, bricht dieser Ansatz doch mit der Tradition einer impliziten Abwertung süddeutscher, österreichischer und schweizerischer Varianten. Vielleicht wird dieser Perspektivenwechsel dereinst auch dazu führen, dass man in der Schweiz zu einem selbstbewussteren, unverkrampfteren Umgang mit der Standardsprache findet.