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Andere Ethnologen studieren Familienstrukturen im Dschungel Sumatras. Stefan Leins hingegen setzte sich für seine Feldforschung mitten unter die Finanzanalytiker am Bankenplatz Zürich. Zwei Jahre lang arbeite er in der Abteilung für Aktienmarktprognosen einer Bank aktiv mit. Zugleich beobachtete er, machte Notizen: Mit welchen kulturellen Codes grenzen sich die Finanzanalytiker von anderen Berufen in der Bank ab, sei es durch die Art zu sprechen oder zu kleiden? Wie gelingt es ihnen, ihren Einfluss symbolisch zu untermauern? Die Bank habe um seine Doppelrolle als Mitarbeiter und Forscher gewusst – verdeckte Feldforschung ist in der sozialen Anthropologie verpönt. Der Umstand war auch dem Team bekannt, das ihn rasch als Kollegen akzeptiert habe, sagt Leins.
Von Finanzanalyse wusste er zu Beginn nicht allzu viel – eine typische Ausgangslage in der Ethnologie: Nicht vorbelastet mit Konzepten hingehen, sondern schauen, was passiert und genug Offenheit mitbringen, um interessante Fragen aufnehmen zu können. So stiess der Ethnologe am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft der Universität Zürich bald auf das grosse Dilemma, das die Zunft der Analytiker prägt. Leins: «Wie kann es sein, dass die Finanzanalytiker in einer Bank und im Markt eine so wichtige Rolle haben, wo doch die Ökonomie nachweist, dass sie die Entwicklung an der Börse gar nicht verlässlich vorhersagen können? Wie gehen sie damit um zu wissen, dass sie immer wieder scheitern?»
Zum Erstaunen des Forschers war im Arbeitsalltag häufig von Gefühlen die Rede. Man müsse den Markt «spüren», um ein guter Analyst zu sein. Tatsächlich helfen Zahlen allein oft nicht wirklich weiter. Sicher ist an der Börse schliesslich nur die völlige Unsicherheit, ob die Kurse in Zukunft nach oben oder nach unten zeigen. In seiner Dissertation zitiert Leins Kenneth French, den ehemaligen Präsidenten der American Finance Association. French kam zum Schluss, dass die Suche nach Zusatzrenditen durch die Analytiker und verwandte Finanzberufe völlig vergeblich sei und im Durchschnitt die jährliche Rendite der Anleger um 0,67 Prozent schmälere.
Leins ging es nicht darum, die Frage zu klären, ob man den Markt schlagen kann oder nicht, sondern empirisch zu belegen, wie die Menschen in diesem sozialen Kontext mit der Unsicherheit umgehen. Seine Antwort: «Im Umfeld der totalen Unsicherheit über die Zukunft der Märkte braucht es jemanden, der es schafft, Narrative zu entwickeln, die Halt vermitteln.» Ohne diese Geschichten und Erzählstränge, die mögliche Deutungen des Markts erlauben, könne der Markt nicht funktionieren. Eine Anlegerin, ein Anleger kann sich daran orientieren, festhalten. Das Gefühl der völligen Unsicherheit, das systemisch zur Börse gehört, ist für einen Moment gebändigt.
Wenn dieser Kompass fehle und nichts als komplette Orientierungslosigkeit herrsche, werde weniger investiert – was bei den Banken die Umsätze der damit verbundenen Gebühren schmälert. «Gewisse konzise Geschichten sind unabdingbar», folgert Leins, «entscheidend ist, dass sie Sinn stiften, ihre Trefferquote ist weniger wichtig.»
Diese Aufgabe folgt überdies einer kulturellen Konstante, die in unterschiedlichen Kontexten zu beobachten ist. Menschen brauchen Geschichten, wenn die Unsicherheit über die Zukunft zu gross wird. Leins nennt als Beispiel in unserer Gesellschaft Horoskope oder in anderen Kulturen magische Rituale. Auf Hokuspokus will er die Arbeit der Analytiker deswegen keinesfalls reduziert wissen. Der Berufsstand nutze und überblicke ein enormes Repertoire an ökonomischem, aber auch soziologischem und kulturellem Wissen. «Ich staunte, was meine Kollegen auf der Bank alles über Länder, Märkte und Regionen wissen», betont er. Doch welcher Umstand letztlich den Markt kausal bewegt, lasse sich nie mit Gewissheit sagen.
Die Dissertation von Stefan Leins zur Konstruktion von Aktienmarktprognosen in der Finanzanalyse soll demnächst in Buchform erscheinen.