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SNF-Förderungsprofessur

«Wir müssen die Privatsphäre neu denken»

Effy Vayena hat eine der elf Förderungsprofessuren an der UZH erhalten, die der Schweizerische Nationalfonds 2015 vergeben hat. Die Ethikerin versucht unter anderem herauszufinden, wie Herr und Frau Schweizer zur Personalisierten Medizin stehen.  
Brigitte Blöchlinger
Ethikerin Effy Vayena: «Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Personalisierter Medizin hat noch nicht stattgefunden». (Video: UZH, Brigitte Blöchlinger)

Als Personalisierte Medizin (PM) bezeichnet man die medizinische Behandlung einer Krankheit, die auf die genetische Disposition eines Patienten zugeschnitten ist. So lässt sich etwa bei Brustkrebs mittels Genom-Analyse und Identifizierung bestimmter biologischer Marker die genaue Brustkrebsart bestimmen und eine individuell auf die Patientin abgestimmte Therapie wählen. Die Chance, Brustkrebs zu überleben, ist dank der PM markant gestiegen, drei von vier Frauen überleben heute eine Brustkrebserkrankung, schreibt das Universitätsspital Zürich (USZ) 2014 in einer Informationsbroschüre zu PM. Aber auch bei Lungenkrebs, Haut- und Darmtumoren und HIV-Infektionen sind dank PM wirksamere Behandlungen möglich.

Nicht immer nützlich

Bei anderen schweren Erkrankungen jedoch wie Multiple Sklerose oder Rheumatoide Arthritis ist der Durchbruch noch nicht erzielt. Und auch bei den häufigsten Erkrankungen – Diabetes und Herz-Kreislauf-Erkrankungen – bringen genetische Untersuchungen sowohl für die Prävention als auch für die Behandlung wenig, weil am Krankheitsgeschehen viele Gene beteiligt sind, relativiert das USZ.

Unbestritten für die Weiterentwicklung der Medizin

Dennoch bleibt für viele die PM eine Hoffnungsträgerin. So auch für US-Präsident Barack Obama; er versprach Anfang 2015 in seiner Jahresansprache bedeutende finanzielle Mittel für die «precision medicine» (amerikanischer Ausdruck für PM). Und auch viele europäische Universitäten fördern sie. Die UZH hat zusammen mit der ETH letztes Jahr ein Kompetenzzentrum Personalisierte Medizin geschaffen, das die verschiedenen Projekte zwischen UZH, ETH und den universitären Spitälern koordiniert und die Erkenntnisse so schnell wie möglich von den Wissenschaftlern im Labor zu den Medizinern in die Praxis zu den Patienten bringen will.

Was denkt die Bevölkerung?

Soweit die hoffnungsvolle Ausgangslage. Doch wie denkt die Bevölkerung in der Schweiz und in Europa über die PM? Wie steht sie zur DNA-Sequenzierung, die am Anfang jeder personalisierten Behandlung steht? «Die gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Personalisierter Medizin hat noch nicht stattgefunden», sagt die Ethikerin Effy Vayena. Die Bevölkerung hat sich noch wenig damit beschäftigt. Dabei gäbe es ethisch und gesellschaftlich viel zu klären. Dazu will Effy Vayena als SNF-Forschungsprofessorin am Institut für Epidemiologie, Biostatistik und Prävention der UZH wesentlich beitragen.

Zwischen Wahlfreiheit und Partizipation

Drei ethische Aspekte wird Effy Vayena als SNF-Professorin genauer untersuchen: als erstes die Wahlfreiheit – wie können Patientinnen und Patienten entscheiden, ob sie sich konventionell oder mittels PM behandeln lassen wollen? Genetische Tests können nämlich «zu ethisch problematischen Situationen führen, denn nicht immer wird aus einem Risiko eine Erkrankung», gibt das USZ zu bedenken. Effy Vayena betont denn auch: «Es gibt ein Recht der Patienten auf Nichtwissen, das respektiert werden muss.» Auch kann eine Genanalyse zu Zufallsbefunden führen und Risiken ans Tageslicht bringen, nach denen gar nicht gesucht wurde, fügt sie an, etwa eine erbliche Veranlagung für Alzheimer – eine äusserst schwierige Situation für Arzt und Patient.

Ungelöste Datensicherheit

Weitere ungelöste Fragen sind: Was geschieht mit den genetischen Daten nach der Behandlung? Wer hat Zugang zu ihnen? Damit verknüpft ist der zweite Schwerpunkt von Effy Vayenas Forschungsarbeit: die Partizipation der Patientinnen und Patienten. Wie wird sich der zukünftige Patient an der Behandlung beteiligen? Wird er seine Gesundheitsdaten selbst sammeln und managen, selbst entscheiden, welche Daten er wem zur Verfügung stellt?

Privatsphäre versus Open Access

Daran schliesst die dritte Problematik an: die Datensicherheit und die Wahrung der Privatsphäre versus Open Access zu Gesundheitsdaten. Bereits heute gibt es viele Menschen, die Gefallen daran finden, regelmässig Blutdruck, Puls, Schritte, Kalorienverbrauch, Gewicht etc. zu messen und zum Teil auf Facebook oder Twitter oder anderen Plattformen im Internet bekannt zu geben. Dadurch hat sich der Begriff «Privatheit» besonders in Bezug auf Gesundheitsdaten stark verändert. «Die Vorstellung, was privat ist und geschützt werden muss, ist nicht mehr wie früher», konstatiert Vayena, «Privatsphäre und Datensicherheit, wie wir sie früher kannten, werden von vielen Menschen quasi bottom-up aufgeweicht – am radikalsten von jenen Personen, die freiwillig ihr Genom auf eine für alle offene Internetplattform wie openSNP.org hochladen.» Bereits heute sind das einige, und dieses Phänomen werde noch zunehmen, ist Vayena überzeugt (siehe Video).

Innovative ethische Ansätze

Muss man diese Leute, die ihre Gesundheitsdaten nicht geheim halten, vor sich selbst schützen?, fragt die Ethikerin – und verneint. Was neu gedacht werden müsse, sei die Privatsphäre, ist sie überzeugt. Mit diesen und anderen komplexen ethischen Fragen, die die Personalisierte Medizin aufwirft, wird sich Vayena als SNF-Professorin mit ihrem 4-köpfigen Team beschäftigen. Sie will die kritischen moralischen Herausforderungen skizzieren, denen sich die Gesellschaft im Zusammenhang mit der Personalisierten Medizin stellen muss, und ethische Ansätze entwickeln, mit denen die Herausforderungen der PM adäquat angegangen werden können.

Die Meinung von Herr und Frau Schweizer

Ihre Forschungsarbeit wird auch einen empirischen Teil aufweisen. In Interviews soll die Bevölkerung befragt werden, wie sie zur PM steht und welche Erfahrungen Patientinnen und Patienten sowie Ärztinnen und Ärzte – in der Schweiz und in Europa – bereits damit gemacht haben. Als Abschluss ihrer theoretischen und empirischen Arbeit schwebt Effy Vayena vor, ethische Richtlinien und Empfehlungen zur PM zuhanden der Politik und Öffentlichkeit zu formulieren.

Was Effy Vayena bisher geleistet hat, findet international Beachtung. So wird sie ab September Fellow am Berkman Center for Internet and Society der Harvard Law School, und am Center for Bioethics der Harvard Medical School wurde ihr ein Lehrauftrag zuteil. Seit zehn Jahren amtet sie ausserdem als Consultant bei der World Health Organization WHO.

Denklabor

Die wissenschaftliche Arbeit als SNF-Professorin an der UZH, die offiziell am 1. August beginnt, gedenkt sie dynamisch zu gestalten. «Mir schwebt ein Denklabor vor», erklärt sie, «wo über Personalisierte Medizin – und die digitale Revolution im Gesundheitsbereich, die damit verbunden ist – sehr intensiv und kreativ nachgedacht wird.» Auch Gastvorträge, Diskussionsveranstaltungen und ein Blog sind vorgesehen. Mit diesen Mitteln will sie mit ihrer Forschung die Öffentlichkeit erreichen und anregen, dass die Leute darüber nachdenken, wie sie zu Personalisierter Medizin stehen. «Alle Leute», betont sie, «denn schon bald wird wohl jede und jeder direkt oder über Bekannte damit konfrontiert sein.»