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Cappelli

Die digitale Wandlung eines Wörterbuchs

Kennen Sie den Cappelli? Nein? Dann sind Sie wahrscheinlich kein Historiker oder Altphilologie. Denn das Wörterbuch der lateinischen Abkürzungen ist unverzichtbar für das Studium des klassischen Mittelalters. Jetzt wird er an der UZH digitalisiert, und zwar mit Hilfe von Crowdsourcing.  
Marita Fuchs
Mönche schrieben im Mittelalter die «Dicta Pirmini», die Predigt des Heiligen Pirmin, mit spitzer Feder auf Tierhaut. Abkürzungen im Text wurden mit Strichen über den Buchstaben gekennzeichnet. (Bild zVg.)

Laien können dazu beitragen, Forschung zu unterstützen. Sie benötigen dazu lediglich einen Computer mit Internetzugang und eine Aufgabe aus der Wissenschaft. Dass solche als Citizen Science oder Crowd Science bezeichneten Projekte funktionieren, hat sich in letzter Zeit  bereits gezeigt. Jetzt greifen auch Historikerinnen und Historiker diese Idee auf, so zum Beispiel das Historische Seminar der UZH. Das Team von «Ad fontes» am Lehrstuhl des Historikers Simon Teuscher will unter dem Namen «Hack Cappelli» wissenschaftlich interessierte Personen dazu aufrufen, sich an der Übertragung von 15‘000 lateinischen Abkürzungen in eine Web-Applikation zu beteiligen. Damit wird der «Cappelli» digital.

Lesen Sie im Folgenden in vier historischen Momentaufnahmen, wie es zu diesem Projekt kam.

Erstes Kapitel: Das Jahr 800 in Rätien. Ein Mönch arbeitet im Scriptorium seines Klosters an einer Handschrift. Es handelt sich um die «Dicta Pirmini», die Predigt des Heiligen Pirmin, die vorsichtig auf eine Tierhaut übertragen wird. Sorgfalt ist geboten, denn die Haut und die Tinte sind wertvoll. Deshalb ritzt der Mönch mit spitzer Feder zunächst die Buchstaben vor, dann lässt er langsam die rote und blaue Tinte einfliessen. Doch wie Grafiker heute, hat der mittelalterliche Mönch ästhetische Ansprüche. Der Satzspiegel soll schön und regelmässig sein. Beinahe als Blocksatz setzt er die Buchstaben, und er benutzt viele Abkürzungen, welche die Texte verkürzen und übersichtlicher machen. Für ihn sind die Abkürzungen, wie etwa «SPS SCS» für Spiritus sanctus, selbstverständlich und gebräuchlich. In allen mittelalterlichen Texten und Urkunden, aber auch auf Münzen werden häufig Abkürzungen verwendet.

Zweites Kapitel: Etwa tausend Jahre später. Im Jahr 1899 arbeitet Adriano Cappelli, Archivar und Paläograph am Königlichen Staatsarchiv in Parma, an einer mittelalterlichen Handschrift. Es handelt sich um eine Abschrift der «Dicta Pirmini». Cappelli hat es vor allem mit lateinischen Handschriften zu tun. Ende des 19. Jahrhunderts gibt es einen Hype rund um alte lateinische Handschriften, vor allem in Italien, weil im jungen Nationalstaat ein grosses Bedürfnis besteht, sich seiner Wurzeln zu vergewissern. Cappelli ist Experte, deshalb wird er oft angefragt, ob er bei Übersetzungen helfen kann.

Abkürzungen, die in lateinischen Handschriften zuhauf auftreten, sind im «Cappelli» systematisch aufgelistet. (Auszug: zVg.)

Um sich zu entlasten, kommt ihm die Idee, ein Nachschlagewerk zu schreiben. Er verfasst es in akribischer Sorgfalt und veröffentlicht es unter dem ausschweifenden Titel: «Das Wörterbuch lateinischer und italienischer Abkürzungen, wie sie in Urkunden und Handschriften besonders des Mittelalters gebräuchlich sind; dargestellt in über 14000 Zeichen, nebst einer Abhandlung über die mittelalterliche Kurzschrift, einer Zusammenstellung epigraphischer Siegel, der alten römischen und arabischen Zählung und der Zeichen für Münzen, Masse und Gewichte». Bis heute wird das Nachschlagewerk von Historikern für Übersetzungsarbeiten benutzt. Cappelli hatte mit seinem Lexikon ein Hilfsmittel für die Historischen Hilfswissenschaften geschaffen, einen Bestseller, der bis heute häufig nachgedruckt wurde.

Drittes Kapitel: Im Jahr 2014. Eine Studentin der Geschichte sitzt an einer alten Handschrift. Wieder geht es um die «Dicta Pirmini», die Predigt des Heiligen Pirmin. «Nicht so ganz einfach zu entziffern, die lateinische Schrift, doch es gibt ja den Cappelli», denkt die Studentin. Das Handbuch hat allerdings Nachteile, sie muss hin und her blättern, Querverweise fehlen. Es wäre wunderbar, wenn das Nachschlagewerk digital zur Verfügung stünde und mit Suchkriterien versehen wäre. Das würde doch die Arbeit sehr erleichtern, meint die angehende Historikerin.

Viertes Kapitel: Oktober 2015. Was hätte Herr Cappelli wohl dazu gesagt, dass sein Bestseller etwa hundert Jahre nach dem erstmaligen Erscheinen im Internet abrufbar sein wird, und zwar nach den Open-Source-Regeln: für jeden zugänglich. Dabei sollen die Abkürzungen nicht nur digitalisiert, sondern anhand eines eigens dafür entwickelten Web-Interface strukturell systematisiert werden, um so die Suchfunktionalität und die Nutzbarkeit zu erhöhen und zu optimieren.

Eingebettet ist diese Arbeit in das E-Learning-Tool Ad fontes, ein Lernangebot der Universität Zürich für Archivbesucherinnen und Archivbesucher. Es richtet sich vornehmlich an Studierende der Geschichtswissenschaft und verwandter Fächer, aber auch an interessierte Laien. Zum Einstieg findet am 22. Oktober an der UZH ein so genannter «Cappelli-Hackathon» statt: Interessierte können an diesem Tag gemeinsam mit Expertinnen und Experten erste Abkürzungen ins Web übertragen, begleitet wird die Veranstaltung von Referaten aus verschiedenen Bereichen der digitalen Geisteswissenschaften.