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In einigen Tagen endet das Jahr 2014 – und damit ein Jahr des Gedenkens an die Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts. Die Resonanz, die dieses Thema auch in der vom Krieg verschonten Schweiz fand, war über Erwarten gross. «Die Zeit ist offenbar reif für die vertiefte Auseinandersetzung mit dem Ersten Weltkrieg, der, verglichen mit dem Zweiten, in der kollektiven Erinnerung hierzulande bisher eher ein Schattendasein fristete», sagt Andreas Thier, Professor für Rechtsgeschichte an der UZH.
Andreas Thier ist für die kommenden drei Jahre Präsident der neu gegründeten Kommission UZH interdisziplinär (UZH-i). Er hat die Ringvorlesung zum Ersten Weltkrieg organisiert, die in diesem Herbstsemester unter dem Titel «1914» stattfand. Zur Sprache kamen politische, wirtschaftliche, soziale, kulturelle, völkerrechtliche, mediale, theologische, militärische und medizinische Aspekte des Krieges. Insgesamt waren 15 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen beteiligt.
Eröffnet wurde der Vorlesungsreigen im September vom Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler, dessen Monumentalwerk «Der Grosse Krieg» die aktuelle Debatte über den Ersten Weltkrieg wesentlich mitgeprägt hat. Die Katastrophe, so seine These, wäre vermeidbar gewesen, wenn die verantwortlichen Akteure sich weniger von eingefahrenen Denkmustern, von Ängsten und Obsessionen hätten leiten lassen.
Von den Gefahren einer verengten Sichtweise handelte auch der abschliessende Beitrag der Ringvorlesung. Marc Chesney, Professor für Finance an der UZH, zog am vergangenen Donnerstag in seinem Referat Parallelen zwischen dem Ersten Weltkrieg und der fortwirkenden Finanzkrise von 2008. Die Jugend Europas sterbe heute zwar nicht mehr in den Schützengräben, sagte Chesney. Der derzeit tobende «Finanzkrieg» aber habe die Zukunftsaussichten unzähliger Menschen zerstört.
Schuld daran sei die Finanzbranche, die sich auf zynische, verantwortungslose Weise von der Realwirtschaft abgekoppelt habe – und dennoch für sich in Anspruch nehme, allein darüber zu entscheiden, was gut für die Volkswirtschaft sei und was nicht. Eine mündige Bürgergesellschaft, sagte Chesney, dürfe sich von der Dominanz und der Überkomplexität des Finanzsektors nicht einschüchtern und in eine passive Rolle drängen lassen, sondern müsse ihre politischen Handlungsspielräume nutzen, um bessere und einfachere Regeln für die Finanzmärkte durchzusetzen.
Andreas Thier griff in seinem Schlusswort zur Ringvorlesung diesen Gedanken Chesneys auf: Die Frage, welche Handlungsspielräume es in der Krise von 1914 gegeben hätte, um in den scheinbar unabwendbaren Lauf der Entwicklung einzugreifen, sei ein zentrales Thema in der aktuellen Debatte zum Ersten Weltkrieg. Auch angesichts heutiger Krisen gelte es, das Sensorium für Interventionsmöglichkeiten wachzuhalten, um der Sogwirkung vorgeblicher Systemzwänge zu widerstehen. Dafür sei «Beobachterdistanz» unabdingbar. Diese wiederum könne man aufbauen, indem man lerne, die Wirklichkeit aus möglichst vielen Perspektiven zu betrachten. Eben dies, sagte Thier, sei auch der Zweck von Ringvorlesungen.
Die Idee, Themen von allgemeiner Relevanz in Form von öffentlichen Ringvorlesungen zu behandeln, zu denen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen Beiträge leisten, hat an der UZH eine über fünfzigjährige Tradition.
Die erste Veranstaltung dieser Art wurde an der UZH zum Thema «Russland und das Abendland» im Wintersemester 1962/63 durchgeführt. Anfänglich fanden Ringvorlesungen nur einmal pro Jahr statt, ab Mitte der Siebzigerjahre in jedem Semester.
Um die Organisation von Ringvorlesungen institutionell einzubetten, wurde 1974 an der Universität Zürich eine Kommission für interdisziplinäre Veranstaltungen (KIV) gegründet. Zwei Jahre später kam es zu einer Vereinbarung von UZH und ETH Zürich, die Ringvorlesungen fortan gemeinsam durchzuführen. Die KIV wurde zu einer Kommission beider Hochschulen. Sie organisierte Veranstaltungen zu Themen wie zum Beispiel «Das Kind» (1979), «Technik wozu und wohin?» (1980), «Das Tier in der menschlichen Kultur» (1981/82), «Utopien» (1986), «Stadt der Zukunft» (1989), «Sackgasse Nationalismus?» (1993), «Deregulierung und Chancengleichheit» (1997/98), «Essen und Trinken» (2001), «Sexualität im Wandel» (2003), «Energie» (2008) oder «Sprache(n) verstehen» (2012).
Die vorerst letzte von UZH und ETH Zürich gemeinsam organisierte Ringvorlesung fand im Herbstsemester 2013 unter dem Titel «Personalisierte Medizin: Hoffnung oder leeres Versprechen?» statt. Danach stieg die ETH aus der KIV aus.
Die Universität Zürich wollte das Format jedoch erhalten und beschloss, Ringvorlesungen fortan in alleiniger Regie durchzuführen. «Zum Auftrag der Universität Zürich als kantonaler Hochschule gehört neben Forschung und Lehre auch die Vermittlung von Wissen an die interessierte Öffentlichkeit», begründet Otfried Jarren, Prorektor Geistes- und Sozialwissenschaften, diesen Entscheid. «Ringvorlesungen», sagt er, «sind ein ausgezeichnetes Mittel, um den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft zu pflegen, zudem machen sie die zunehmende Bedeutung interdisziplinärer Forschung an der UZH sichtbar.»
Im August 2014 konstituierte sich die ehemalige KIV unter dem Namen Kommission UZH interdisziplinär neu. Sie koordiniert nicht nur die Ringvorlesungen, sondern kann auch bei der Organisation anderer interdisziplinärer Angebote der UZH beratend und unterstützend mitwirken.
Die Kommission setzt sich aus einer Professorin bzw. einem Professor pro Fakultät sowie zwei Studierenden, zwei Mittelbauangehörigen und zwei Privatdozierenden zusammen. Die Kommissionsmitglieder werden von der Erweiterten Universitätsleitung gewählt. Eine beratende Stimme in der Kommission hat die Leiterin oder der Leiter der Geschäftsstelle – derzeit ist dies Deborah Keller.
Zu den wichtigsten Aufgaben der Kommissionsmitglieder gehört es laut Kommissionspräsident Andreas Thier, ihre jeweiligen Netzwerke in den Fakultäten spielen zu lassen, um zu sondieren, welche Wissensressourcen für ein interdisziplinäres Thema genutzt und welche Fachpersonen beigezogen werden können.
Gemäss der Geschäftsordnung der Kommission UZH interdisziplinär sind alle Professorinnen und Professoren, alle Privatdozierenden, Mittelbauangehörigen und Studierenden der UZH berechtigt, bei der Kommission UZH interdisziplinär einen Antrag auf Unterstützung zur Durchführung einer interdisziplinären Ringvorlesung zu stellen. Laut Thier würde es die Kommission begrüssen, wenn zukünftig Nachwuchsforschende vermehrt Ringvorlesungen organisieren würden. «Ihnen bringen interdisziplinäre Netzwerkaktivitäten einen besonders grossen Nutzen», sagt Thier.
Die Kommission UZH interdisziplinär darf eine Ringvorlesung pro Semester unterstützen. Antragstellerinnen oder Antragsteller, die den Zuschlag erhalten, profitieren von inhaltlicher Beratung bei der Programmgestaltung sowie finanziellen Beiträgen etwa zur Begleichung von Reisespesen oder Honoraren für auswärtige Referierende. Die Geschäftsführung der Kommission leistet zudem administrativen Support.
Kriterien für die Auswahl der Projekte sind wissenschaftliche Exzellenz und interdisziplinäre Ausrichtung des Programms, zudem sollen Themen gewählt werden, die eine breite Öffentlichkeit interessieren. Für Laien unverständliche Fachdiskurse sollen vermieden werden.
Als «Schaufenster der Universität» charakterisiert Andreas Thier die Ringvorlesungen. «Sie machen sichtbar, was die spezifische Qualität einer grossen, fächerreichen Volluniversität wie der UZH ausmacht: die Fähigkeit, aus verschiedensten Optiken heraus wissenschaftlich fundierte Antworten auf Fragen zu geben, die uns alle betreffen.»