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100 Jahre Schweizerischer Nationalpark

Serengeti der Alpen

Vor hundert Jahren wurde der erste Schweizerische Nationalpark gegründet. Norman Backhaus vom Geographischen Institut der UZH ist Präsident der Forschungskommission des Nationalparks. Im Interview erklärt er, wie Wissenschaft und Naturschutz ineinander greifen.
Sabina Mächler

Zwischen Natur, Tourismus und Wissenschaft: Der Schweizerische Nationalpark besteht seit 100 Jahren.

Herr Backhaus, Sie sind Titularprofessor an der UZH und Präsident der Forschungskommission des Nationalparks. Was hat das eine mit dem anderen zu tun?

Norman Backhaus: Forschung ist neben dem Naturschutz und dem Bildungsauftrag eine der drei Hauptaufgaben des Nationalparks. Die Forschungskommission gehört zur Akademie der Naturwissenschaften SCNAT, die den Nationalpark vor 100 Jahren (als Schweizerische Naturforschende Gesellschaft) mit ins Leben gerufen hat. In ihrem Forschungskonzept gibt die Kommission die Themenschwerpunkte vor, die im Nationalpark vorangetrieben werden sollen. Sie bewilligt Projekte und überprüft deren Qualität. Als Geograph bin damit ganz nah an meinem Forschungsgebiet.

Worüber wird im Nationalpark geforscht?

Von Menschen wenig beeinflusste Gebiete eignen sich für die Langzeitbeobachtung von Flora und Fauna. So wird zum Beispiel rund um das Wanderverhalten von Huftieren wie Hirschen, Steinböcken und Gämsen viel geforscht. 1917 haben Botaniker Testflächen für eine Bestandsaufnahme der Pflanzen abgesteckt, die bis heute wissenschaftlich untersucht werden, um Aufschlüsse über die Wiederbewaldung gerodeter Weideflächen von Nutztieren zu erhalten. Die Pflanzenforscher nahmen an, dass die Weideflächen rasch zuwachsen würden. Entgegen ihrer Vermutung ästen Hirsche die Gräser auf den ehemaligen Weiden ab und verhinderten die Verwaldung.

Zu solchen Erkenntnissen kommt man nicht in zwanzig Jahren. Langzeitforschung über mehrere Generationen können sehr aufschlussreich sein. Mit 100 Jahren sind wir jedoch erst am Anfang.  

Sie sind Humangeograph und damit Sozialwissenschaftler. Forschen Sie selbst auch im Nationalpark?

Ja, im Zentrum meines Forschungsinteresses stehen die Besucherinnen und Besucher des Nationalparks und die Interessen der lokalen Bevölkerung und Gemeindevertretungen.

Eine Studie von Marcel Hunziker aus den 1990er-Jahren ergab zum Beispiel, dass der grosse Anteil von Totholz, der in einem unbewirtschafteten Wald wie dem Nationalpark liegen bleibt, von den Wanderern zum Teil als störend und unästhetisch empfunden und mit dem Waldsterben in Verbindung gebracht wurde. Eine Wiederholung dieser Untersuchung unter meiner Leitung 2012 zeigte, dass seither ein Sinneswandel stattgefunden hat. Heute stören sich die Besucherinnen und Besucher nicht mehr am morschen Holz. Im Gegenteil: Sie finden es sogar schön.

In anderen Studien haben wir die Wertschöpfung und die Akzeptanz des Parks bei der lokalen Bevölkerung und Gemeindevertretern untersucht. Da sprechen die Zahlen für sich: Rund ein Drittel der sommertouristischen Wertschöpfung der Region geht auf den Nationalpark zurück. Ausserdem generiert er zusammen mit der «Biosfera Val Müstair» etwa 240 Vollzeitstellen und ist damit ein wichtiger Arbeitgeber. Die ansässige Bevölkerung und die Gemeindevertreter äussern sich demnach auch positiv zum Park und identifizieren sich mit ihm.

Steht der Tourismus nicht im Widerspruch zur Absicht, das Gebiet vor menschlichen Einflüssen zu schützen?

Nicht nur die Besucherinnen und Besucher, auch die Forschungstätigkeiten sind ein Eingriff in die Natur und beide, Forschung wie Bildung, gehören genauso zu den Aufgaben des Nationalparks wie der Naturerhalt. Tourismus ist hier wie anderswo ein Fluch und ein (Geld-)Segen. Wichtig ist es, das Gleichgewicht zu finden und den Eingriff in die Natur mit strikten Verhaltensregeln zu limitieren. Mit den jährlich ca. 120'000 – 150'000 Besucherinnen und Besuchern kann man diese Balance halten. Im Herbst zur Brunftzeit der Hirsche gibt es manchmal Engpässe, vor allem im Val Trupchun, der «Serengeti» der Alpen.

Der Park möchte keinen weiteren Tourismus fördern, sondern zählt auf eine Selbstregulation durch Social Crowding – grosse Besucheraufläufe an einem Ort schrecken viele Naturfreunde ab; sie weichen in weniger stark besuchte Täler aus.

Inwiefern sind menschliche Eingriffe im Nationalpark nötig?

Der Nationalpark ist kein geschlossenes System. Es besteht eine Interaktion mit seinem Umfeld. Beispielsweise herrscht im Park striktes Jagdverbot. Das wissen auch die Hirsche und ziehen sich mit Vorliebe ins Val Trupchun  zurück. Da eine natürliche Regulierung durch Grossraubtiere wie Bären, Wölfe und Luchse fehlt, besteht die Gefahr einer Überpopulation.

Gegen Winter verlassen die Hirsche das Parkgebiet wieder in Richtung tiefere, wärmere Lagen. Die Erkenntnisse aus der Huftierbeobachtung haben dazu geführt, dass im Kanton Graubünden im November eine Sonderjagd erlaubt wurde, um ein Hirschsterben aufgrund von Futtermangel zu vermeiden.

Ein anderes Beispiel: 1970 bauten die Engadiner Kaftwerke die Livignostaumauer zur Energiegewinnung durch Wasserkraft. Der einst dynamische Spöl, der durch das Tal floss, verkam zu einem Restwasserbach. Die natürlichen Hochwasser, welche für die Vielfalt und Regulierung der Wasserlebewesen wichtig sind, entfielen. Seit den 1990er Jahren werden deshalb künstliche Hochwasser generiert, um den natürlichen Zustand des Spöls vor dem menschlichen Eingriff zu simulieren.

Aufgrund eines Unfalls an der Staumauer wurde 2013 Schlamm ins Spölbecken gespühlt. Durch die langjährigen Erkenntnisse aus hydrologischen und ökologischen Forschungen konnten die Sedimente zum Teil weggewaschen werden, so dass die Wasserlebewesen das Becken nun rascher wiederbesiedeln können.

Der Jahreskongress der Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) steht dieses Jahr im Zeichen des Schweizerischen Nationalparks und der regionalen Naturpärke. Was dürfen wir erwarten?

Am Jahreskongress werden Highlights aus der Schweizer Schutzgebietsforschung vorgestellt. Internationale Gastreferierende ergänzen das Programm mit jeweils vergleichbaren Forschungsarbeiten aus dem internationalen Kontext. Den Abschluss bildet eine Podiumsdiskussion zum Schweizerischen Schutzregime. Welchen Beitrag leisten die Pärke für die Biodiversität? Wie wichtig ist der Aspekt der Regionalentwicklung?, sind Fragen, die diskutiert werden.

Welche Zukunft hat der Schweizerische Nationalpark?

Der Nationalpark im Engadin ist zur Zeit der einzige Nationalpark der Schweiz. In den kommenden Jahre stimmen die Gemeinden der Adula-Region (GR, TI) und im Locarnese (TI) darüber ab, ob ihre Regionen ebenfalls zu Nationalpärken erklärt werden sollen. Die Hintergründe für oder gegen diese Initiativen sind divers und Objekt einer weiteren Forschungsarbeit, die wir im Moment am Geographischen Institut in Zusammenarbeit mit der Universität Fribourg in Angriff nehmen.

Weiterführende Informationen

Hinweis

Der Jahreskongress 2014 der Schweizerischen Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT) ist am 25./26. September dem Thema gewidmet:

«Wie viel Schutz(gebiete) braucht die Natur?»