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Lateinamerika war im Laufe seiner Geschichte immer wieder Projektionsfläche für Phantasien und Utopien. Schon die Kolonisatoren suchten die Goldschätze des legendären El Dorado. Später, zwischen 1920 und 1960, galt der Kontinent als Teil der Welt, wo sich wie in Brasilia die Moderne quasi auf der grünen Wiese verwirklichen liess. Sozialromantiker sahen danach in der kubanischen und nicaraguanischen Revolution die Keimzelle für eine bessere Gesellschaft, während die Ökonomen Chile nach erzkapitalistischen Grundsätzen zu sanieren versuchten.
Und wofür steht Lateinamerika heute? Negative Zerrbilder über Drogenkriege, Umweltzerstörung oder Staatsbankrott beherrschen unsere Sicht. Und verhindern, dass wir die positiven Veränderungen wahrnehmen: «Lateinamerika ist abgesehen von Teilen Osteuropas der einzige Ort der Welt, wo seit Ende des kalten Krieges ein nachhaltiger Demokratisierungsprozess verläuft», sagt Jens Andermann von der UZH.
Der Literaturwissenschaftler mit Spezialgebiet Iberoromanistik hat zusammen mit Johannes Kabatek die interdisziplinäre Ringvorlesung «América(s) Latina(s)» zusammengestellt. Ab diesem Donnerstag halten Forschende der UZH und Gastdozenten renommierter Hochschulen aus Europa und den USA bis Ende Jahr wöchentlich einen Vortrag. Die fünfzehn Forscherinnen und Forscher unterschiedlicher Disziplinen werfen Schlaglichter auf den Kontinent – von der Paläontologie und den Geowissenschaften über die Politik- und Sprachwissenschaften bis zur Architektur und Kunstgeschichte.
«Der Plural im Titel der Vorlesung nimmt Bezug auf die Diversität Lateinamerikas und die Vielfalt der Vortragsthemen», sagt Andermann. «Wir wollen den Kontinent sozusagen neu kartographieren und die interessanten Entwicklungen in den ehemaligen Schwellenregionen zeigen.» Andermann erhofft sich davon einen frischen Blick statt veralteter Vorurteile, die das Lateinamerika-Bild prägen.
Der Veranstaltungsort Zürich bietet sich für eine solche Neuvermessung an. «Die UZH ist schon jetzt die Drehscheibe der schweizerischen Lateinamerikaforschung», betont Andermann. Keine andere Universität in der Schweiz hat gleichzeitig Spanisch und Portugiesisch, die beiden grossen Sprachen Lateinamerikas, komplett im Studienangebot.
Zu den Literatur- und Sprachwissenschaftlern der UZH kommen die Sozial- und Wirtschaftswissenschaftler, die sich mit sozialen und ökonomischen Fragestellungen beschäftigen. Schliesslich studieren Naturwissenschaftler unterschiedlicher Disziplinen Fauna, Geographie und Klima des Kontinents. «Wir sind international sehr gut aufgestellt und haben diverse Kooperationen in Südamerika», sagt Jens Andermann.
Der Kulturwissenschaftler ist Herausgeber des «Journal of Latin American Cultural Studies», Sprachwissenschaftler Johannes Kabatek leitet die «Revista Internacional de Lingüística Ibérica». Zudem: Mit der Kollektion Daros, die in Zürich angesiedelt ist und die grösste Sammlung lateinamerikanischer Gegenwartskunst Europas beherbergt, hat die Stadt einen weiteren, wichtigen Bezug zu Südamerika.
Die Ringvorlesung soll zum einen die bestehenden Netzwerke und Forschungskooperationen der UZH stärken. Gleichzeitig ist die interdisziplinäre Veranstaltung auch ein inoffizieller Startschuss für ein Lateinamerika-Zentrum. «Wir möchten unsere Aktivitäten in einem Kompetenzzentrum bündeln und daraus einen Universitären Forschungsschwerpunkt (UFSP) bilden», sagt Jens Andermann. Entsprechend den an der UZH vertretenen Forschungsgebieten soll dieser Schwerpunkt auf den folgenden drei Bereichen ruhen:
- Literatur-, Kunst- und Sprachwissenschaften
- Sozial-, Wirtschafts- und Politikwissenschaften
- Naturwissenschaften.
Ein Vorbild für den geplanten Schwerpunkt ist der UFSP Asien und Europa der UZH, der ebenfalls interdisziplinär angelegt ist und die Kompetenzen von vierzehn Disziplinen und vier Fakultäten bündelt. Dadurch entsteht viel akademischer Schub.
«Wir befinden uns in einer paradoxen Situation», sagt Andermann. «Wir sind als Hispanistik die kleinste Disziplin am Romanischen Seminar, vertreten aber den grössten geographischen Raum.» Ein UFSP zu Lateinamerika brächte nicht nur den Forschenden mehr Schlagkraft. Ein Zentrum wäre auch ein grosser Mehrwert für die Universität Zürich.