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Politisch Frustrierte wählen oft drastische Worte, um ihrer Ohnmacht Ausdruck zu verleihen. Im russischen Parlament, der Duma, sind pointierte Unmutsäusserungen von Oppositionellen entsprechend häufig zu hören. «Deswegen funktioniert in unserem Land nichts: die Duma verabschiedet die Gesetze nicht, die notwendig wären, und die, die sie verabschiedet, funktionieren bei uns nicht», sagte ein Ageordneter am 3.7.2013. Und ein anderer frotzelte: «Gestern hat mir im Korridor einer unserer Kollegen gesagt: Russland ist ein besetztes Land, und auf besetztem Territorium gelten die Gesetze der Okkupanten, nicht unsere.» (14.2.2014)
Seit 2012 finanziert der Schweizerische Nationalfonds ein am Slavischen Seminar der UZH angesiedeltes Forschungsprojekt zu Impliziten Kommunikationsstrategien im heutigen politischen Diskurs Russlands, Polens und Tschechiens. Im Fokus stehen Äusserungen, deren Entschlüsselung auf sogenannten «Implikaturen» beruht, das heisst Schlussfolgerungen, die ausgelöst werden durch die Unmöglichkeit einer wörtlichen Deutung und meist nicht zwingend beziehungsweise einklagbar sind. Dazu gehören Ironie, rhetorische Fragen, die Verwendung von Zitaten jeglicher Provenienz (Folklore, Literatur, Film, Pop-Musik, Werbung, Geschichte, Tagespolitik oder Wissenschaft), ferner Tautologien sowie frische, das heisst nicht konventionelle Metaphern. Dies stellt eine methodische Herausforderung dar, da neben der ironischen beziehungsweise rhetorischen Interpretation vielfach auch im gegebenen Kontext die wörtliche Interpretation nicht ausgeschlossen ist.
Im Ländervergleich zeichnen sich bei bestimmten Kommunikationsstrategien schon jetzt deutliche quantitative und qualitative Unterschiede ab: Das russische Parlament pflegt zum Beispiel einen weit intensiveren Umgang mit Zitaten als seine beiden Pendants, wobei als Quellen auch Kinderliteratur, Märchen und Trickfilme herhalten müssen. Daneben drängt sich eine wohl etwas überraschende generelle Erkenntnis auf: Je kontroverser das Thema, desto höher fällt die Dichte an impliziten Formulierungen aus. Möglicherweise lässt sich dies so erklären, dass der Mehraufwand für die Dekodierung der impliziten Botschaft letzten Endes zu einer mnemotechnisch effizienteren Wiedergabe des Gemeinten führt.
Ein Erkenntnisziel des Projekts ist es, die nationale Spezifik der verglichenen politischen Diskurse zu erfassen. Am leichtesten fällt dies bei Parlamentsdebatten, wo der Unterschied der politischen Systeme wohl deutlicher zum Ausdruck kommt als in Fernsehdiskussionen. So sticht im polnischen Sejm der häufige Vergleich Polens mit anderen, auch kleineren Volkswirtschaften wie Litauen oder Tschechien hervor, meist im Zusammenhang mit eigenen Missständen.
Der häufige Ausdruck von Frustration ist dagegen eine Eigenheit der russischen Staatsduma, zumindest ihrer drei oppositionellen Fraktionen. Er gipfelt in ironischen Vorschlägen, zum Beispiel die Erwähnung der Duma wegen ihrer absoluten Nutzlosigkeit in der Verfassung zu streichen (16.11.2007) oder statt Wahlen eine konstitutionelle Monarchie einzuführen (20.6.2012). Wahlfälschungen sind in den Voten der Opposition ohnehin ein Dauerthema: (vor den Präsidentschaftswahlen 2008:) «Das ganze Land, die ganze Welt weiss doch ohnehin, wer bei uns Präsident wird, aber lassen Sie uns wenigstens den Anschein von ehrlichen, sauberen und demokratischen Wahlen schaffen.» Die eigene Ohnmacht nimmt metaphorische Gestalt an: «Für die Obrigkeit sind Roboter-Abgeordnete sehr bequem, die einfach schweigen und den Abstimmungsknopf drücken.» (2.6.2008).
Solche Töne, noch dazu in solcher Häufung, wird man nicht nur in Polen oder Tschechien, sondern auch sonstwo vergeblich suchen. Quellen der Frustration gibt es viele: Die Opposition beklagt sich über die Verletzung ihrer Rechte durch die Mehrheit, die Duma als Ganzes fühlt sich von der Regierung missachtet, die ihre Vorstösse ignoriert und deren Vertreter nicht einmal zur Fragestunde erscheinen beziehungsweise sich von subalternen Ministerialbeamten vertreten lassen. Eine weitere dauernde Klage betrifft die mangelnde eigene Medienpräsenz, vor allem im Fernsehen. Das Parlament weiss aber auch sehr genau, wie gering seine Wertschätzung in der Bevölkerung ist. Was in den beiden parlamentarischen Demokratien Tschechien und Polen eine Selbstverständlichkeit darstellt, fehlt in Russland: die reale Aussicht nämlich, dass Wahlen einen Machtwechsel herbeiführen können.
Im Umgang mit der nationalen Geschichte sind ebenfalls klare Unterschiede zwischen den drei Ländern erkennbar. So finden sich in der tschechischen Abgeordnetenkammer häufig Reminiszenzen an die Zwischenkriegszeit, deren demokratische, stabile und angeblich konsensorientierte Ordnung geradezu mythisch verklärt erscheint.
In Polen dagegen gerät die Zwischenkriegszeit oder gar die vorherige Periode der Teilungen höchstens anlässlich von nationalen Feiertagen in den Fokus. Mit der sozialistischen Vergangenheit mag sich niemand mehr identifizieren, auch nicht die Nachfolgepartei der Kommunisten (SLD), höchstens wird der jeweilige Gegner des Rückfalls in sozialistische Denkweisen geziehen.
In Russland wiederum ist die Wertung der Sowjetzeit bis heute ein Zankapfel zwischen linker und rechter Opposition, das heisst zwischen Kommunisten und Liberaldemokraten, für die Regierungspartei hingegen kaum je Thema. Am Vorabend des 25. Jahrestags des Rückzugs der Sowjettruppen aus Afghanistan am 14.2.2014 dominierte ein lautstarker Patriotismus (zum Beispiel wenn ein Veteran die historische Mission der Russen in der Welt mit den Worten «Russland ist zur Grösse verurteilt» beschwor), der leisere kritische Töne überdröhnte.
Der Konflikt mit Georgien im Sommer 2008 schweisste das Parlament zu einer beinahe monolithischen Einheit zusammen, und die gegenwärtige dramatische Auseinandersetzung mit der Ukraine offenbart erst recht über alle parteipolitischen Frustrationen hinweg einen hurrapatriotischen Schulterschluss aller Fraktionen. Am Rande sei angemerkt, dass ein und dasselbe historische Ereignis auf ganz unterschiedliche Weise als Vergleichsgrösse benutzt werden kann, um aktuelle Geschehnisse implizit zu deuten. So bezog sich Hillary Clinton auf die deutsche Besetzung der Tschechoslowakei 1939, um Putins Vorpreschen auf der Krim zu brandmarken, während der Kommunist Zjuganov dasselbe Beispiel anführte, um die Übernahme des Kiewer Majdan-Platzes durch «die Faschisten», also die Demonstranten, in ein kritisches Licht zu stellen.
Angesichts der aktuellen Situation hat unser Team die ukrainische Krise als Thema eines Dreiländervergleichs auf Parlaments- und Regierungsebene an die oberste Stelle der Prioritätenliste gesetzt. Die Kontraste dürften hier denkbar krass ausfallen, weckt doch die kalte Übernahme der Krim bei den Tschechen ominöse Erinnerungen an einen ähnlichen «brüderlichen» Einmarsch im August 1968, während Polen nicht nur die mehr als 140 Jahre unter zaristischer Knute als historische Belastung mit sich trägt, sondern auch innerhalb der EU als der hauptsächliche Fürsprecher der Ukraine auftritt. Die Bewertung impliziter Kommunikationstechniken verspricht in diesem akuten und risikoträchtigen Konflikt besonders aussagekräftig zu werden.