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Die Schweizerische Akademie der Geistes- und Sozialwissenschaften (SAGW) hat ein Positionspapier «Für eine Erneuerung der Geisteswissenschaften» publiziert. Sie, Herr Glauser, gehören zum Autorenteam. Weshalb müssen sich die Geisteswissenschaften erneuern?
Jürg Glauser: Die Idee hinter diesem Projekt war, etwas über den Zustand der Geisteswissenschaften zu erfahren. Wir sind relativ rasch zum Befund gekommen, dass es auf der einen Seite ein riesiges Interesse daran gibt, was die Geisteswissenschaften tun. Das zeigt vor allem der grosse Zustrom der Studierenden. Auf der anderen Seite werden in der Öffentlichkeit der Wert und die Funktion dieser Fächer ganz anders eingeschätzt. Das gilt vor allem für die Politik, die die Geisteswissenschaften kritisch bewertet.
Wo sehen Sie den Erneuerungsbedarf, Herr Ammann?
Christoph Ammann: Von aussen gibt es den Druck, sich zu legitimieren und aufzuzeigen, welches der Beitrag der Geisteswissenschaften zur Lösung konkreter Probleme ist. Intern wird darauf schon präventiv reagiert. In meinem Gebiet der Ethik wird man beispielsweise, wenn man nicht unmittelbar angewandt forscht, schnell in Frage gestellt. Es wird heute von der Gesellschaft verlangt, dass man sich legitimiert. Fraglich ist, wie man das tut.
Das Positionspapier vermittelt den Eindruck, dass die Geisteswissenschaften mit dem Rücken zur Wand stehen – einerseits formuliert die Politik ihre Zweifel, andererseits geben die Naturwissenschaften den Ton an und beanspruchen die Deutungsmacht für sich. Fühlen Sie sich unter Druck, Herr Glauser?
Glauser: Mit der Ökonomisierung der Universitäten sind die Ansprüche etwa an die Messbarkeit von Forschungsleistungen gestiegen. Damit tun sich die Geisteswissenschaften schwer. Gerade die «alten» Fächer wie die Philologien, die Kunstgeschichte oder die Geschichte haben eine gewisse Schwierigkeit, sich neu zu orientieren, und fühlen sich deshalb an die Wand gedrückt.
Ammann: Das Problem aus meiner Sicht ist, dass stark auf Erwartungshaltungen reagiert wird. Was dagegen fehlt, ist eine Reflexion des Faches und seiner Bedürfnisse.
Im Positionspapier ist von den grossen Herausforderungen der Zeit die Rede. Diesen müsse man sich annähern, wird festgestellt. Empfohlen wird, dass in die Lehrpläne der obligatorische Besuch von naturwissenschaftlichen Vorlesungen aufgenommen werden soll. Beschäftigen sich die Geisteswissenschaften nicht mehr mit den grossen Fragen der Zeit?
Glauser: Es schadet nichts, über den fakultären Tellerrand zu schauen. Ich glaube, die Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften können eminent dazu beitragen, Antworten auf die grossen Fragen der Zeit zu finden. Beispielsweise fragen die Medienwissenschaften, wie die mediale Berichterstattung unsere Wahrnehmung und unser Bild von Wirklichkeit prägen. Oder wir beschäftigen uns mit den Herausforderungen, die sich der Gesellschaft durch die Migration stellen.
Ammann: Den Blick über die Disziplinengrenzen hinaus finde ich sehr wichtig. Zuweilen stört mich aber diese Unterwürfigkeit der Geisteswissenschaften gegenüber den Naturwissenschaften. Wenn man die grossen Herausforderungen – beispielsweise den Klimawandel – betrachtet, dann ist das sicherlich ein Problem, das sich nicht nur naturwissenschaftlich lösen lässt, weil es dabei um gesellschaftliche und politische Prozesse und Entscheidungen geht.
Um solche Themen anzupacken, dürfte es interdisziplinäre Projekte brauchen. Im Positionspapier der SAGW wird moniert, dass sich Geisteswissenschaftler schwertun, solche auf die Beine zu stellen. Wo sehen Sie die Gründe dafür?
Ammann: Die traditionelle geisteswissenschaftliche Forschung basiert darauf, dass einer allein an seinem Projekt arbeitet. Ich finde das gar nicht schlecht, das sollte weiterhin möglich sein. Aber ich finde es grundsätzlich gut, dass die Zusammenarbeit in Gruppen gefördert wird. Eine grosse Klage der Doktorierenden war und ist, dass man bei seiner Arbeit vereinsamt und zu wenig unterstützt wird.
Was wären die Vorteile, wenn auch in den Geisteswissenschaften vermehrt grosse Forschungsverbünde aufgebaut würden?
Glauser: Wichtig ist, dass die Initiative von den Fächern selbst kommt, die für sich relevante Forschungsthemen definieren. Das kann nicht oktroyiert werden. Es bringt nichts, Planforschung zu machen. Die beiden sehr erfolgreichen geisteswissenschaftlichen Nationalen Forschungsschwerpunkte (NFS) «Mediality» in Zürich und «eikones» in Basel sind genau so entstanden, als Zusammenschluss von Interessierten. Wir sind mit dem ersten Antrag für den NFS Mediality gescheitert, haben uns dann zu einem Kompetenzzentrum für Mediävistik zusammengeschlossen. Der Antrag war beim zweiten Mal sehr viel besser und kam durch. So kann das funktionieren.
Was ist aus Ihrer Sicht der Vorteil dieses Modells?
Glauser: Es ist nicht ausschliessend – man kann weiterhin seine Monografie schreiben und es werden weiterhin Dissertationen und Habilitationen verfasst. Die zentrale geisteswissenschaftliche Arbeit wird nicht tangiert. Es ist kein Entweder-oder.
Wie profitieren die Forschenden davon?
Glauser: Sie haben einen grösseren Echoraum, bekommen viel mehr Inspirationen von verschiedenen Seiten und eine geregeltere Struktur für die eigene Forschung. So haben beim NFS Mediality hier in Zürich alle Mitarbeitenden ein eigenes Arbeitszimmer am selben Ort, wo man sich unkompliziert austauschen kann. Das entspricht dem Konzept des Laboratoriums, wo man spontan etwas miteinander besprechen kann.
Das Positionspapier soll auch dazu anregen, ein positiveres Bild der Geisteswissenschaften in der Öffentlichkeit zu vermitteln. Wie würde ein solches Bild aussehen?
Ammann: Mir ist wichtig, dass die Geisteswissenschaften in ihrem kritischen Potenzial wahrgenommen werden. Sie eröffnen einen Spielraum, in dem wir uns fragen können, wer wir sind und wer wir sein wollen. Diese beiden Dimensionen gehören beim Menschen ja immer zusammen. Dieser Möglichkeitsraum ist gerade für das kritische Potenzial in einer Gesellschaft wichtig.
Ich stelle immer wieder fest, dass ich als Ethiker in einem Gremium, das vorwiegend aus Naturwissenschaftlern besteht, einen anderen Blick auf die Dinge habe. Dass ich andere Fragen stelle. Geisteswissenschaftler sind als kritisches Gegenüber der Gesellschaft von eminenter Wichtigkeit. In diesem Sinne sind wir auch nicht einfach Dienstleister: Wir erarbeiten nicht nur Wissen, das der Markt verlangt, sondern stellen auch unbequeme Fragen.
Mit der 68er-Bewegung boomten die Sozial- und Geisteswissenschaften. Sie etablierten sich als Instanzen der gesellschaftlichen Kritik. Wie sieht es denn heute aus? Dieses kritische Potenzial scheint heute wenig wertgeschätzt.
Ammann: So pauschal würde ich das nicht sagen. Der Beitrag der Geisteswissenschaften sollte nicht nur der sein, zu Lösungen von Problemen beizutragen, sondern die Probleme anders – differenzierter, mit mehr historischem Bewusstsein und grösserem Horizont – wahrzunehmen. Hier liegt die grosse gesellschaftliche Relevanz der Geisteswissenschaften.
Glauser: Ich sehe das ähnlich. Man muss bestimmt wieder versuchen, in der Öffentlichkeit stärker präsent zu sein. Die Geistes- und Kulturwissenschaften können massgeblich dazu beitragen, aus gesellschaftlichen Krisen herauszufinden. Dass die Wirtschaftswissenschaften das nicht können, hat sich in der Finanzkrise gezeigt. Und dass auch die Naturwissenschaften an ihre Grenzen stossen, ist ebenfalls klar geworden. Ohne Geisteswissenschaften, ohne Bücher, ohne Kunst, ohne die Reflexionen über das Andere, die Differenzen, wären wir völlig gefangen in den einseitigen, monokausalen Strukturen etwa der Ökonomie oder der Naturwissenschaften.
Da besteht das Problem der Selbstermächtigung. Müssten die Geisteswissenschaften nicht viel deutlicher sagen: Hier sind wir, und wir haben einen Beitrag zu leisten?
Glauser: Ja, das wird zu wenig getan. Aus dieser Demuts- und Bittstellerhaltung müssen wir unbedingt herausfinden. Und dazu können solche Initiativen wie unser Positionspapier beitragen.