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Ein Gymnasium in der Ostschweiz. Die Schülerinnen und Schüler der Klasse 10b haben Biologieunterricht; auf dem Programm steht Evolutionsbiologie. Schule as usual, könnte man meinen, und doch ist etwas neu: Für zwei Doppelstunden wird der Lehrer vom Lehrplan abweichen und eine Unterrichtseinheit mit den Schülern durchgehen, die nicht nur Fachwissen vermittelt, sondern Naturwissenschaft aus der Vogelperspektive betrachtet. Die Schüler sollen verstehen, wie naturwissenschaftliches Wissen entsteht.
Die Stunde beginnt. Alle beugen sich über die Texte ihrer Materialsammlung, obenauf die Abbildung eines Archaeopteryx-Skeletts. Bis heute wurden weltweit nur zehn Versteinerungen dieses Vogels geborgen, erfahren die 17-Jährigen, die sich fast alle für Saurier interessieren. Einige können sich noch gut an die Zeit erinnern, als sie – etwa 10 Jahre alt – mit den Eltern ein Sauriermuseum besuchten und mit zwei Plastikdinosauriern aus dem Shop glücklich wieder nach Hause gingen.
Das erste Fossil des Archaeopteryx wurde 1861 im bayrischen Solnhofen gefunden. Der Landarzt und Hobby-Paläontologe Karl Friedrich Häberlein liess sich seine ärztlichen Dienste in Fossilien bezahlen. Auf diese Weise gelangte er in den Besitz eines sensationellen Fundstücks: Des Fossils eines Archaeopteryx. Der Frankfurter Paläontologe Hermann von Meyer gab dem Fund den Namen Archaeopteryx – «alte Feder». Doch ist die «alte Feder» wirklich ein Vogel? Über die Frage, ob Archaeopteryx noch Saurier oder schon Vogel war, stritten sich die Gelehrten lange.
Die Schüler betrachten das Skelett: Das Fossil zeigt Merkmale beider Klassen auf: Schwanz, Zähne, Schultergürtel und die drei krallenbewehrten Finger lassen ihn als Reptilverwandten erscheinen. Das Gabelbein und die Federn sind klare Vogelmerkmale.
«Die Erforschung des Archaeopteryx eignet sich hervorragend, um zu zeigen, wie naturwissenschaftliches Wissen entsteht», sagt Balz Wolfensberger, Oberassistent an der Abteilung Lehrerinnen- und Lehrerbildung Maturitätsschulen des Instituts für Erziehungswissenschaft der UZH. «Nach dem Fund des berühmten Fossils im Jahre 1861 wurde nämlich innerhalb von nur zehn Jahren das Skelett von verschiedenen Paläontologen völlig unterschiedlich interpretiert.»
Konkret: Der Naturforscher und Kreationist Johann Andreas Wagner wollte mit dem Fossil die göttliche Schöpfung beweisen, während der britische Forscher Richard Owen ein Verfechter der Theorie der Urzeugung war. Er ging davon aus, dass sämtliches Leben aus unbelebter Materie entstanden sei. Thomas Henry Huxley schliesslich wies nach, dass der Archaeopteryx als Vogel klassifiziert werden muss. Darwin selbst hat den Archaeopteryx später als Übergangsform vom Saurier zum Vogel bezeichnet.
Glauben die Schüler zu Beginn des Unterrichts, dass der Fund doch für sich sprechen müsse, so lernen sie mit der Zeit, dass naturwissenschaftliches Wissen nicht nur aus reinen Fakten und damit einhergehenden unumstösslichen Wahrheiten besteht, sondern dass es auf die Interpretation dieser Fakten ankommt.
In der angelsächsischen Welt messen Bildungspolitik und Unterrichtsforschung diesen Ansätzen naturwissenschaftlichen Unterrichts unter dem Begriff «Nature of Science» als Teil der allgemein anzustrebenden «Scientific Literacy» – einer naturwissenschaftlichen Grundbildung – schon länger Bedeutung zu. Im Unterricht werden empirische Grundlagen, Theorien, Methoden und Gesetze als Fundamente naturwissenschaftlichen Wissens vorgestellt, zusätzlich sollen die Schülerinnen und Schüler beispielsweise verstehen, dass Forschungsergebnisse immer auch eingebettet sind in jeweilige gesellschaftliche Werte und Diskurse und so wissenschaftliche Theorien massgeblich prägen.
Balz Wolfensberger hat zusammen mit der wissenschaftlichen Mitarbeiterin Claudia Canella und der Erziehungswissenschaftlerin Jolanda Piniel diese Unterrichtseinheit konzipiert. Sie ist Teil eines Forschungsprojekts, das vom Schweizerischen Nationalfonds unterstützt wird.
Im Klassenzimmer haben die Bildungsexperten jeweils mit Videokamera und Schreibstift das Geschehen beobachtet. Sie wollten wissen, wie die Schülerinnen und Schüler mit den von ihnen zusammengestellten Texten und Bildern arbeiten und ob die didaktische Aufbereitung des Stoffes so gestaltet ist, dass die angestrebten Lernziele erreicht werden. Wolfensberger und Canella sind nun mit dem Ergebnis ihrer Unterrichtseinheit zufrieden. Das Feedback von Lehrern und von insgesamt etwa 70 Schülerinnen und Schülern aus fünf verschiedenen Klassen floss in die Konzipierung ein und führte zu steten Verbesserungen.
Jetzt steht die Unterrichtseinheit, die Ende Juni allen Lehrpersonen der Naturwissenschaften an Gymnasien samt Material online zur Verfügung gestellt wird. Sie umfasst Stoff für zwei Doppelstunden und ist für Schülerinnen und Schüler des zehnten bis zwölften Schuljahrs an Gymnasien gedacht.