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Vreni Meier ist 73 Jahre alt. Beim Treppensteigen oder Einkaufen sticht es in der Brust, oft muss sie innehalten. Die Augen lassen nach, und sie ist ein wenig vergesslich. Vor zwei Jahren ist ihr Mann gestorben, seitdem ist nichts mehr so wie ehedem. Sie hat keinen Appetit. Das Deux-Pièce, das früher so gut passte, hängt an ihr herunter.
Als Vreni Meier den Arzt aufsucht, diagnostiziert dieser eine Angina Pectoris, die durch eine Verengung einer oder mehrerer Herzkranzgefässe verursacht wird, ausserdem eine leichte Demenz, eine Makula-Degeneration, die für die Augenschwäche verantwortlich ist, eine mittelschwere Depression und einen Vitamin-B12-Mangel, der den Gewichtsverlust der Patientin verursacht haben könnte. Dahinter könnte jedoch auch eine andere schwerwiegendere Krankheit stecken.
Vreni Meier hat mehrere Krankheiten, die mit verschiedenen Medikamenten bekämpft werden sollen. Sie verlässt die Apotheke mit einem gut gefüllten Plastiksäckchen. Als multimorbide Patientin erleidet sie kein Einzelschicksal. Vor allem mit zunehmendem Alter nimmt die Zahl der Menschen mit mehreren Krankheiten stark zu.
Die Crux der multimorbiden Patienten besteht darin, dass die verschiedenen Medikamente, die sie einnehmen müssen, zwar im Hinblick auf ihre Wirkung bekannt sind, nicht aber auf die Wirkung in der Kombination mit den jeweiligen Krankheiten. So kann zum Beispiel ein Blutverdünner bei der einen Krankheit angezeigt sein, die andere jedoch verschlimmern. «Es gibt Patienten, die angehalten sind, bis zu fünfzehn Tabletten am Tag zu schlucken – nur sehr erfahrene Mediziner können in etwa sagen, wie sich bei dem Patienten diese Kombination letztendlich auswirkt», sagt Edouard Battegay, Professor für Innere Medizin an der Universität Zürich und Direktor der Klinik und Poliklinik für Innere Medizin am Universitätsspital Zürich.
Das gleichzeitige Auftreten mehrerer chronischer Krankheiten ist bei Personen über sechzig Jahre das häufigste Krankheitsbild überhaupt. Betroffen sind damit etwa 30 Prozent der Schweizer Bevölkerung, schätzt Battegay. «Das heutige Gesundheitssystem wird den Bedürfnissen von multimorbiden Patienten nicht gerecht», bilanziert der Internist.
Es gibt zwar Datenbanken, die Unverträglichkeiten einzelner Medikamente aufzeigen, auch über das Zusammenspiel von Medikamentencocktails sind Mediziner relativ gut informiert. Was bisher fehlt und weitgehend unerforscht ist, ist das Zusammenspiel vieler Medikamente mit vielen Krankheiten. Hinzu kommt, dass wissenschaftliche Medikamentenstudien in der Regel multimorbide Patienten ausschliessen, weil die Vielzahl der Faktoren, die berücksichtigt werden müssten, zu hoher Komplexität führt. So nehmen heute Seniorinnen und Senioren Medikamente ein, die in klinischen Studien an jungen und gesunden Menschen getestet wurden.
Das hat auch historische Gründe. Der Historiker Jakob Tanner von der Universität Zürich erklärt, seit dem frühen 19. Jahrhundert sei die Medizin auf spezifische Krankheiten fokussiert gewesen. Ärztliche Diagnosen bezogen sich auf klar definierbare Krankheitsbilder, für die spezielle Therapien und Medikamente entwickelt wurden. Dieses «monomorbide» Leitbild geriet im ausgehenden 20. Jahrhundert aus zwei Gründen in eine Krise: Zum einen hat sich die durchschnittliche Lebenserwartung seit 1900 fast verdoppelt.
Im hohen Alter treten komplexe gesundheitliche Beeinträchtigungen auf, die sich nicht mehr mit den konventionellen therapeutischen Techniken angehen lassen. Da Frauen auch mit 80 Jahren eine höhere Lebenserwartung aufweisen als gleichaltrige Männer, hat das Problem auch einen Gender-Aspekt.
Zum anderen weist Tanner auf eine veränderte Wahrnehmung und Deutung von Krankheiten hin. In der Definition der WHO, die Gesundheit als «einen Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens» definiert, drücken sich auch gesteigerte Erwartungen an die moderne Medizin aus. Inzwischen finden Frühsymptome eine grössere Aufmerksamkeit und die therapeutischen Ansätze werden «personalisiert».
Im Gegensatz zur WHO-Definition könne Gesundheit auch als dynamisches Fliessgewicht verstanden werden, sagt Gerontopsychologe Professor Mike Martin von der Universität Zürich. Will heissen: Gesund sein bedeute auch – trotz einiger Gebrechen – seine Lebensqualität und Autonomie aufrecht erhalten zu können. Martin fordert ein Umdenken weg von der Orientierung an Krankheiten hin zu einer patientenbezogenen Perspektive. Bei der Behandlung multimorbider Patienten käme es darauf an, Prioritäten zu setzen und sie mit den Patienten auszuhandeln. Sei zum Beispiel ein Patient angehalten, entwässernde Medikamente zu nehmen, die ihn daran hindern, selbständig einkaufen zu gehen, weil er ständig die Toilette aufsuchen müsse, so müsse man abwägen, was wichtiger sei.
Um die Problembereiche rund um das Phänomen Multimorbidität wissenschaftlich zu erfassen, haben Edouard Battegay und Mike Martin nun ein neues «Kompetenzzentrum Multimorbidität» an der Universität Zürich etabliert. Das Zentrum bündelt medizinische, geriatrische und sozialwissenschaftliche Forschung. Er hat dabei jedoch nicht nur den alten Menschen im Blick, denn auch immer mehr Kinder oder jüngere Menschen seien von Multimorbidität betroffen, sagt Battegay. «Forschung über die Evidenz individualisierter medizinischer Interventionen ist dringend nötig», betont auch Mike Martin, der neben Präsident Edouard Battegay als Vizepräsident des Kompetenzzentrums Multimorbidität amtet.
Das neue Kompetenzzentrum ist interdisziplinär ausgerichtet. Durch die Zusammenarbeit von Expertinnen und Experten verschiedener Fachrichtungen sollen sich ganz neue Sichtweisen für die Behandlung mit multimorbiden Patienten ergeben. Dementsprechend gehört die Zusammenarbeit inter- und transdisziplinärer Forschungsgruppen sowie der Einbezug von vorklinischen und klinischen Studien zu den vordringlichen Aufgaben.