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Dieser unendliche Schmerz beim Tod eines geliebten Menschen. Nie mehr in das vertraute Gesicht sehen können, nie mehr den Blick des anderen auf sich spüren, seine Stimme hören, die Wärme seiner Umarmung empfinden: All dies erfüllt uns mit tiefer Trauer. Mit dem Tod des anderen verlieren wir auch immer einen Teil von uns selbst.
Eltern etwa, deren einziges Kind stirbt, sind auf einen Schlag nicht mehr Mutter und Vater. Ihre elterliche Verantwortung fällt weg, sie können nichts mehr an die nächste Generation weitergeben, keine Liebe, kein Wissen, keine Werte. Sie gehören nicht mehr dazu, wenn andere Eltern über ihre Kinder reden. Ihre bisherige soziale Rolle und damit die eigene Identität wird durch den Tod komplett erschüttert, es entsteht ein Bruch in der Biografie der Zurückgebliebenen. Im Prozess der Trauer geht es darum, das eigene Selbst wieder neu und anders aufzubauen.
Doch wie lange darf dieser Prozess dauern? Neuere Studien, erklärt die Soziologin Nina Jakoby, würden Trauerreaktionen nach 13 oder 14 Monaten als chronisch definieren. Eigentlich wird erwartet, dass sich der oder die Trauernde bis zu diesem Zeitpunkt von der verstorbenen Person emotional gelöst hat und «gesundet» wieder ins alltägliche Leben zurückkehren kann. Geht es nach der neusten Fassung des «Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders» der American Psychiatric Association, wird Trauer sogar noch schneller pathologisch, wie Jakoby schildert: Nach diesem Manual kann jemand direkt als depressiv diagnostiziert und je nachdem auch gleich mit Psychopharmaka behandelt werden, wenn er zwei Wochen nach dem Tod eines Angehörigen unter Schuldgefühlen leidet oder zutiefst niedergeschlagen und antriebslos ist.
«Der medizinisch-psychiatrische Ansatz sieht Trauer als eine Krankheit, die es zu überwinden gilt», erklärt Jakoby. Für die Soziologin ist Trauer jedoch nicht nur ein individuelles Gefühl oder gar ein pathologischer Zustand, sondern ergibt sich aus sozialen Beziehungen, emotionalen Bindungen, Erwartungen und Verpflichtungen. Sie stellt damit ein wichtiges Untersuchungsfeld für die Soziologie dar. «Trauer wird auch durch gesellschaftliche Gefühlsnormen bestimmt», so Jakoby. Dabei bestimmt der gesellschaftliche Konsens, wie «normale» Trauer auszusehen hat: Um verstorbene Familienangehörige etwa soll und darf intensiv getrauert werden – bei einem toten Hund gilt das als unschicklich oder lächerlich.
Für ihre Habilitation über Trauer und Traurigkeit hat sich Jakoby mit verschiedenen Ausdrucksformen von Trauer beschäftigt. Besonders interessant ist eine neue Plattform, die in den 1990er-Jahren im angloamerikanischen Raum als Nischenphänomen begann und seither immer mehr an Boden gewinnt: die so genannten Web-Memorials oder virtuellen Friedhöfe. «Inzwischen», berichtet Jakoby, «haben sogar renommierte Medien wie die ‹Süddeutsche Zeitung› solche Online- Portale eingerichtet.» Sie selber hat die beiden deutschsprachigen Seiten «Memorta» (www. memorta.com) und «Strasse der Besten» (www. strassederbesten.de) näher untersucht.
Hinterbliebene können in diesen Portalen virtuelle Gedenksteine für verstorbene Personen errichten. Mit Texten, Bildern, Musik wird da der Toten gedacht. Auch Freunde, Verwandte und Bekannte der verstorbenen Person sind eingeladen, in den «Gästebüchern» ihre eigenen Erinnerungen und Würdigungen beizutragen.
Begonnen hat das Phänomen nicht zufällig mit virtuellen Friedhöfen für Haustiere, diesem «stigmatisierten Trauerbereich», so Jakoby. «Man blickt immer mit Vorurteilen auf Menschen, die stark um ein Tier trauern», sagt sie. Doch nach einer jahrelangen intensiven Beziehung zu einem Tier kann dessen Verlust durchaus gleich bedeutsam sein wie der Verlust eines geliebten Menschen.
Zu den ersten Web-Memorials gehörten auch die amerikanischen «Baby-Gardens»: Gedenkstätten für Babys, die im Mutterleib oder gleich nach der Geburt gestorben sind. Wie die zurückgebliebenen Besitzer von toten Haustieren werden auch die Eltern dieser Babys von der Gesellschaft allein gelassen, wenn auch in diesem Fall eher aus Hilflosigkeit denn aus moralischen Gründen: Denn niemand ausser den Eltern konnte eine Beziehung zu diesen Kindern aufbauen, daher kann auch niemand den Schmerz der Eltern richtig teilen. Das Internet bietet hier einen Ausweg, um die schmerzhaften Emotionen trotzdem ausdrücken zu können.
Dass diese neuen Plattformen schliesslich so rasch Erfolge feierten, ist für die Soziologin nicht schwer zu erklären: «Damit wurde ein Ritual geschaffen, das in der westlichen Gesellschaft fehlte – nach der Beerdigung gibt es bei uns wenig Möglichkeiten, längerfristige Trauergefühle und Erinnerungen an Verstorbene auszudrücken.»
Anders als zum Beispiel in Japan, wo ein intensiver Ahnenkult mit eigens dafür eingerichteten Hausaltären dafür sorgt, dass die Verstorbenen im Leben der Angehörigen präsent bleiben. Oder in Mexiko, wo nach altem Brauch die Toten an den Dias de los muertos zwischen dem 31. Oktober und dem 2. November aus dem Jenseits zu Besuch kommen und auf den Friedhöfen gemeinsam mit den Lebenden ein fröhliches Wiedersehen bei Musik, Tanz und gutem Essen feiern. «Während das medizinisch-psychiatrische Trauermodell das Loslösen von den Verstorbenen und damit eigentlich das Vergessen propagiert, geht es hier um das Erinnern», konstatiert Nina Jakoby.
Genau das passiere auch in den virtuellen Friedhöfen des Internets: «Da werden die Toten nicht in der Vergangenheit zurückgelassen, sondern bleiben Teil der Gegenwart.» Die Angehörigen können den Kontakt mit ihnen aufrechterhalten, indem sie ihnen schreiben, und im Austausch mit anderen Hinterbliebenen bleiben die Erinnerungen lebendig.
Dieses gemeinsame Erinnern wird sowohl in der Soziologie als auch in alternativen psychologischen Ansätzen als wichtig beschrieben, «continuous bonds» heisst der Fachbegriff dafür. Im Internet findet es nun offenbar in ritualisierter Form statt. Für die Hinterbliebenen sei dies sehr heilsam, ist Nina Jakoby überzeugt: «Der Bruch in der eigenen Biografie, den der Tod eines geliebten Menschen verursacht, wird durch das Erinnern erheblich gemildert.» Oder mit anderen Worten: Eine Mutter darf sich immer noch als Mutter fühlen und geben, ein Vater immer noch als Vater, auch wenn ihr Kind tot ist.
Allerdings lauern auch in den virtuellen Friedhöfen wie überall im Internet Gefahren. Wie steht es zum Beispiel um den Schutz des Privaten? «Web-Memorials rücken Emotionen, Familiengeschichten, persönliche Erlebnisse und Bilder ins Licht der Öffentlichkeit», gibt Jakoby zu bedenken, «und das Netz vergisst nichts.» Zudem könnte es geschehen, dass jemand einen Verstorbenen auf eine Art und Weise darstellt, die von Familienmitgliedern oder Freundinnen und Freunden als störend empfunden wird. Verschiedene Lebensanschauungen und Werte können dabei aufeinanderprallen.