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Haarscharf schrammte Zypern in den letzten Tagen an der Staatspleite vorbei. Der Imageschaden, den die EU erlitt, als sie die Kleinsparer in einem ersten Hauruckentscheid zur Kasse bitten wollte, war erheblich. Die Union verspielt jegliches Vertrauen, wenn sie ihre eigenen, zuvor aufgestellten Prinzipien verletzt, wurde kritisiert.
An Aktualitätsbezug mangelte es den 5. Aarauer Demokratietagen von vergangener Woche nicht. «Demokratie und Europäische Union» lautete das Thema, das am Donnerstag und Freitag rund 400 Besucherinnen und Besucher nach Aarau lockte. Mit dem ehemaligen Vizepräsidenten der EU-Kommission Günter Verheugen und dem Europa-Parlamentarier Gerald Häfner hielten zwei Politiker flammende Plädoyers für mehr Demokratie auf der europäischen Ebene.
An drei wissenschaftlichen Workshops wurde anschliessend analysiert, inwiefern die Schweiz ein Modell in Sachen Demokratie für die EU sein könnte, ob mit der neuen EU-Bürgerinitiative mehr demokratische Legitimität in Sicht ist und welche Gemeinsamkeiten in der Bildungspolitik der Schweiz und der EU festzustellen sind.
Günter Verheugen sparte als ehemaliger Vizepräsident der EU-Kommission in seiner Rede nicht mit Kritik an seinen Nachfolgern, als er von der «Hilflosigkeit des derzeitigen Führungspersonals der EU» sprach. Mit ihren technokratischen Lösungen verletze die EU das Selbstbestimmungsrecht der von der Krise am stärksten betroffenen Länder. Die ursprünglich zur Sicherung von Frieden, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit gegründete EU stehe in Verdacht, die demokratischen Fundamente Europas aufzulösen.
Es sei kein Wunder, dass die Menschen den Nutzen der europäischen Einigung nicht mehr sähen. Beamte statt Politiker entschieden in undurchsichtigen Verfahren über die Köpfe der Bürger hinweg, während die Mitgliedsstaaten an Souveränität und Gestaltungsspielraum verlören.
Damit Europa global als wichtiger Player wahrgenommen werde, sei eine weitergehende Integration Europas zwar zwingend, so Verheugen. Diese müsse aber einhergehen mit einer Demokratisierung der EU. Nötig sei eine Reformagenda: Das Europäische Parlament müsse in seinen Kompetenzen weiter gestärkt und das Prinzip der Subsidiarität endlich ernstgenommen werden – bestimmte Kompetenzen gehörten zurück zu den Nationalstaaten. Die EU solle für Sicherheit und Frieden sorgen und sich um einen Binnenmarkt und eine Währungsunion kümmern – nicht aber den Briten vorschreiben, ihr Bier nicht mehr in «Pint» ausschenken zu dürfen.
Auch Gerard Häfner, deutscher Vertreter der Grünen im Europaparlament, kritisierte die «Atemlosigkeit der Feuerwehrübungen» der EU. Die Union bewege sich in Richtung eines «technokratischen Absolutismus», die Mitsprache nur bei unwichtigen Fragen ermögliche.
Elementare demokratische Grundsätze wie die Gewaltenteilung seien ausser Kraft gesetzt, wenn etwa nationale Regierungsmitglieder als europäische Legislative fungierten.
Das Europaparlament sei zwar mit dem Vertrag von Lissabon gestärkt worden. So sei für Beschlüsse nun die Zustimmung von EU-Kommission, EU-Rat (Gremium der Staats-/Regierungschefs der Mitgliedsländer) und Parlament nötig. Allerdings liegt das Initiativrecht für EU-Recht nach wie vor allein bei der EU-Kommission. Zudem nehmen in der Praxis gemäss Häfner 84 Prozent der Gesetzgebungsprojekte den «fast track» – ein abgekürztes Verfahren unter weitgehender Ausschaltung des Parlaments.
«Europa hat nur eine Zukunft, wenn es ein Europa der Bürger wird und diese mitentscheiden lässt», so Häfner. Er plädierte ebenfalls dafür, gewisse Kompetenzen zurück auf die nationale oder gar regionale Ebene zu verlagern. Wenn es etwa um die Alpen gehe, sei nicht die EU gefragt, sondern die Anrainerstaaten der Alpen.
«Wir brauchen eine grundlegend neue Architektur für die EU. Wir müssen Europa heute anders bauen, als das nach dem Zweiten Weltkrieg geschehen ist», so Häfner. Um dies zu bewerkstelligen, sollte nach Häfner ein «europäischer Konvent» einberufen werden.
Dieser würde aus Vertretern der nationalen Parlamente, des Europäischen Parlaments, der Regierungen und aus Bürgervertretern bestehen und in einer mehrjährigen Arbeit einen Vorschlag für die zukünftige Gestaltung der EU ausarbeiten. Der Vorschlag würde in allen Mitgliedstaaten in die Vernehmlassung gehen und dort schlussendlich dem Referendum unterbreitet werden.
Inwiefern sich die EU das Demokratiemodell der Schweiz als Vorbild nehmen könnte, war Thema des ersten wissenschaftlichen Workshops der Demokratietage. Jean Blondel, emeritierter Professor der Politikwissenschaft am Europäischen Hochschulinstitut Florenz, erachtet insbesondere das von Respekt geprägte Verhältnis zwischen Bund und Kantonen in der Schweiz als vorbildhaft. Entsprechende Beziehungen zwischen der EU-Zentrale und den Mitgliedsstaaten wären sehr wünschenswert.
Breite Diskussionen löste die Frage aus, inwiefern direktdemokratische Instrumente wie Referendum und Initiative für die supranationale Ebene der EU nutzbar sind. Insgesamt 53 Referenden im Zusammenhang mit der EU haben seit den 1970er Jahren in den europäischen Ländern stattgefunden, berichtete ZDA-Politikwissenschaftler Fernando Mendez.
Diese Abstimmungen zu EU-Vertragsänderungen – etwa in Irland oder Dänemark — wurden in den Workshops mehrfach kritisiert. Die Vorlagen seien zu kompliziert formuliert, würden den Integrations-Gegnern in die Hände spielen und den Nationalismus fördern.
Eine überwältigende Mehrheit der EU-Bürger will sich diese Referendumsmöglichkeit bei Vertragsänderungen nicht mehr nehmen lassen, wie Umfragen zeigen. Mehrere Referierende schlugen allerdings vor, nur über einzelne gesetzliche Änderungen statt über ganze Verträge abstimmen zu lassen.
Dass für Vertragsänderungen Einstimmigkeit verlangt werde und ein einzelner Staat somit den ganzen Prozess blockieren könne, sei demokratisch fragwürdig, meinte Andreas Auer, UZH-Rechtsprofessor und Abteilungsleiter am Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA).
Als Ausgleich zwischen demokratischen und föderalen Aspekten wurde diskutiert, analog dem doppelten Mehr von Volk und Ständen in der Schweiz bei Abstimmungen auf EU-Ebene doppelte Mehrheiten von Abstimmenden und Staatenmehrheiten zu verlangen.
Einig war man sich, dass die Unterschiede und Gemeinsamkeiten zwischen der Schweiz und der EU im Detail analysiert werden müssen, soll das helvetische politische System als Modell dienen. So sei etwa zu berücksichtigen, dass sich die heutige Form der Demokratie in der Schweiz in einem 150-jährigen Prozess herausbildete und von deutlich dezentraleren Strukturen ausging als es in der derzeitigen EU der Fall sei.
Ein Demokratie-Experiment hat die EU im April 2012 gestartet – die EU-Bürgerinitiative. Sie war Hauptthema im zweiten Workshop. Mit einer Million Unterschriften können EU-Bürgerinnen und Bürger die Europäische Kommission dazu auffordern, eine Gesetzesinitiative zu ergreifen.
Für Nadja Braun Binder, Rechtswissenschaftlerin am Deutschen Forschungsinstitut für öffentliche Verwaltung Speyer, ist die Bürgerinitiative allerdings kein eigentlich direktdemokratisches Recht, da sie keine Abstimmung erzwingen kann. Die Initiative diene vor allem dem Agenda-Setting, also dazu, politische Themen zu lancieren.
Der gegenwärtige Enthusiasmus im Zusammenhang mit der Bürgerinitiative könnte schnell erblassen, wenn kaum je eine Initiative zustande komme oder eine solche kaum Wirkung zeige, gab ZDA-Rechtswissenschaftler Lorenz Langer zu bedenken. In der Tat ist bisher keine Initiative zustande gekommen.
Nadja Braun Binder könnte sich vorstellen, dass das Instrument zu einem späteren Zeitpunkt gestärkt werden könnte, indem die Bürgerinitiative die EU-Kommission verpflichten würde, eine Gesetzesvorlage auszuarbeiten. Ein solcher Schritt mache aber nur Sinn, wenn ein solches Initiativrecht zuvor auch dem Europäischen Parlament eingeräumt werde – was derzeit nicht in Sicht sei.
Einig waren sich die Teilnehmenden des Workshops, dass die EU-Bürgerinitiative durchaus das Potenzial hat, zu mehr europäischer Öffentlichkeit und demokratischer Legitimität beizutragen.
Eine solche europäische Öffentlichkeit herzustellen und ein europäisches Bewusstsein zu schaffen, ist erklärtes Ziel der EU. Mit vielfältigen Angeboten im Bereich Bildung und Jugendaustausch will die EU kompetente, globalisierte und friedvolle Bürgerinnen und Bürger heranbilden. Der dritte Workshop der Demokratietage war deshalb der Bedeutung des Themas Demokratie in der Schule und der Bildungspolitik in der Schweiz und Europa gewidmet.
Obwohl der Schweizer Bildungspolitik ein Ziel analog der Heranbildung eines europäischen Bürgers fehlt, seien ihre Bildungsinhalte oft mit jenen der EU vergleichbar, sagte Béatrice Ziegler, UZH-Titularprofessorin und Leiterin der Abteilung Politische Bildung/Geschichtsdidaktik am ZDA. Der im Juni in die Vernehmlassung gehende «Lehrplan 21», den die Schweizer Kantone ausgearbeitet haben, definiere im Bereich der politischen Bildung ebenfalls Menschenrechte und Demokratie als wichtige Lernziele.
Die Ähnlichkeiten in den schweizerischen und europäischen Bildungszielen seien kein Zufall, zeigte die Erziehungswissenschaftlerin Vera Sperisen in ihrem Referat auf. Es finde derzeit eine eigentliche «Internationalisierung der Bildungspolitik» statt. Immer mehr Lehrpläne richteten sich nicht mehr an zu vermittelnden Inhalten, sondern an zu erwerbenden «Kompetenzen» aus. Diese Neuorientierung erfolgte in vielen Ländern im Nachgang der PISA-Studie aus dem Jahre 2000 und gehe auf das Bildungskonzept der OECD zurück, so Sperisen.
Hätten sich die Bildungsinhalte früher an der Kirche und später am Nationalstaat orientiert, seien heute internationale Organisationen der Referenzrahmen, stellte Sperisen fest. Dies gelte auch für die in den letzten Jahrzehnten erfolgte Reform der Lehrerbildung in der Schweiz. Nicht pädagosiche Gründe seien dafür verantwortlich gewesen, sondern die Öffnung der Schweiz gegenüber dem europäischen Arbeitsmarkt und die Orientierung am neu entstehenden europäischen Hochschulraum.
Es könnte lohnenswert sein, die schweizerischen Erfahrungen mit Demokratie für die EU nutzbar zu machen, etwa was das Verhältnis von Bund, Kanton und Gemeinden sowie direktdemokratische Instrumente anbelangt, könnte das Fazit der 5. Aarauer Demokratietage lauten.
Er würde sich ein Gremium wünschen, um solche Fragen im Gespräch zwischen der EU und der Schweiz genauer zu untersuchen, sagte Politikwissenschaftler Jean Blondel: «Das Zentrum für Demokratie Aarau würde sich als Thinktank für ein solches Vorhaben gut eignen.»
Die Beiträge der 5. Aarauer Demokratietage werden in einem Tagungsband erscheinen. Die nächsten Aarauer Demokratietage am 27./28. März 2014 werden dem Thema «Demokratie in der Gemeinde» gewidmet sein.