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Romano ist zehn Jahre alt und spielt leidenschaftlich gern Minecraft. Aus den digitalen Würfeln des Lego-ähnlichen Computergames baut er sich seine eigene Welt – Häuser, Pflanzen, Tiere. Und neustens auch Flugzeuge, denn die interessieren ihn sehr. Auf YouTube sucht er deshalb nach Beispielen von Minecraft-Jets. Und stösst auf Kriegsgerät, Explosionen und Flugzeugwracks. Romano ist irritiert und fasziniert zugleich. Seine Mutter sieht es und macht sich Gedanken. Wo führt das hin? Soll sie ihrem Sohn YouTube verbieten? Und wenn sie es tut – wie kann sie ihn kontrollieren?
«Im Gegensatz zum Sexheftli vom Kiosk, das man erst mit 18 bekommt, ist das Internet kein reguliertes Medium», sagt Martin Hermida, Assistent am Institut für Publizistikwissenschaft und Medienforschung der Universität Zürich. Im Rahmen eines Nationalfondsprojekts machte Hermida eine Befragung von rund 1000 Schweizer Kindern zwischen 9 und 16 Jahren zu ihrem Umgang mit dem World Wide Web; auch die Eltern konnten sich äussern.
Mit der Studie beteiligt sich die Schweiz am Projekt «EU Kids Online». Seit 2006 machen die EU-Staaten standardisierte Erhebungen zu den Risiken des Internets für ihre jungen Bürger. Ziel ist eine umfassende europäische Datenbasis, aus der sich Trends und entsprechende Präventivmassnahmen ableiten lassen.
Übermässige Internetnutzung, problematische Inhalte, Cybermobbing, Datenmissbrauch, fragwürdige Kontakte: Diese fünf Kriterien bilden das Rückgrat von «EU Kids Online» und damit auch von Martin Hermidas Studie.
Einige ihrer Resultate widerlegen die gängige Volksmeinung. So lässt sich übermässiger Internetkonsum zum Beispiel weniger an der effektiven Zeitdauer messen als vielmehr am subjektiven Gefühl des Kindes, durch die Stunden am Bildschirm andernorts Einbussen zu erleiden – etwa beim Erledigen der Hausaufgaben oder im direkten Kontakt mit Freunden. Bei einem Fünftel der befragten Kinder war dies der Fall.
Problematische Inhalte wiederum suchen Kinder selten mit Absicht; auch Romano interessierte sich ja im Grunde nicht für Minecraft-Panzer und -Kanonen, als er losgoogelte. Zwanzig Prozent der von Hermida befragten Kinder gaben an, Sex und Gewalt im Internet bereits einmal gesehen zu haben; auf Sexseiten stiessen sie zumeist durch Werbe-Popups.
Cybermobbing haben nur fünf Prozent der Befragten erlebt. «Das Phänomen wurde durch die Medien geschleift, ist aber nur eine vergleichsweise seltene Form von richtigem Mobbing», sagt Martin Hermida. Warum, wie sich aus der Befragung ergab, Mädchen von Cybermobbing doppelt so stark betroffen und die Opfer von Cybermobbing oft gleichzeitig auch Täter sind, sei noch nicht erklärbar. «Das ist neu, da müssen wir vorerst weiterforschen.»
Erschreckend dann aber die Ergebnisse zum Datenmissbrauch: Ein Viertel der befragten Kinder sind der festen Überzeugung, ihre Texte und Bilder liessen sich jederzeit aus dem Netz löschen. Viele Kids, so Hermida, hätten offenbar kein Bewusstsein dafür, dass digitale Daten unendlich vervielfältigbar und damit auch jeder Kontrolle entzogen seien.
Erschreckend auch der Umgang mit Netzkontakten: Jedes vierte Kind unterhält im Internet Beziehungen zu völlig fremden Menschen. Sieben Prozent der Befragten haben sich aufgrund von Netzbekanntschaften gar schon mit Fremden getroffen, und zwei Prozent gaben an, auf diese Weise «unangenehme Erfahrungen» gemacht zu haben.
«Hier liegt das grösste Gefahrenpotenzial», sagt Hermida. Was ihn besonders erstaunt: Die Eltern waren gerade in diesem Punkt am schlechtesten informiert. «Vor solchen Fremdkontakten», sagt Hermida, «haben Eltern zwar allergrösste Angst, bei ihren Kindern sind sie in dieser Hinsicht aber meistens blind.»
Woran sie freilich nicht allein schuld sind, denn: «Kinder sind smart. Oft lassen sie Eltern an unverfänglichen Facebook-Aktivitäten teilhaben, was ihnen die Illusion von Kontrolle gibt. Daneben machen sie aber noch ganz anderes », sagt Daniel Süss, Extraordinarius für Mediensozialisation und Medienkompetenz an der Universität Zürich; hauptberuflich ist Süss Professor für Medienpsychologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften.
Gemeinsam mit dem Telekommunikationsanbieter Swisscom publiziert Süss alle zwei Jahre die «JAMES»-Studie. Im Unterschied zu «EU Kids Online» basiert sie auf einer Befragung von Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren und deckt den gesamten Medienkonsum ab, vom Fernsehen übers Internet bis zur Mobiltelefonie.
Wie Hermida kommt auch Süss zum Schluss, dass die Gefahr des Cybermobbing überbewertet wird und vorab das «analoge Mobbing» an Schulen und andernorts Sorge bereitet. Allerdings ergab die «JAMES»-Studie, dass immerhin sechs Prozent der befragten Jugendlichen sogenanntes Sexting – eine Ableitung von Texting – betreiben: Sie versenden per Handy Nacktbilder von sich selbst. «Wenn dann Freundschaften auseinanderbrechen, kann das schnell zu Cybermobbing führen», sagt Süss.
Das fehlende Bewusstsein für Datenschutz gibt auch ihm zu denken. Immer mehr junge Menschen bedienten sich sozialer Netzwerke, um privat zu kommunizieren; Blogs und Foren würden weit weniger genutzt, und das herkömmliche Mailen sei bei vielen bereits out. «Aber die Jugendlichen sind sich kaum bewusst, dass alles, was sie auf Facebook laden, dann auch Facebook gehört», sagt Süss, «dass sie ihre Daten rechtlich also abtreten und Facebook damit machen kann, was es will.» Da nützt auch die Zunahme von Privacy-Einstellungen nichts; die achtzig Prozent der Befragten, die solche Schutzvorkehrungen treffen, wiegen sich in falscher Sicherheit.
Was sowohl Hermida als auch Süss feststellen: Die mobile Internetnutzung nimmt rasant zu. Besassen 2010 noch fünfzig Prozent aller befragten Jugendlichen ein Smartphone, waren es 2012 schon achtzig Prozent.
Das hat Folgen. «Wenn Kinder nicht mehr nur zu Hause surfen, wird die Kontrolle schwierig», sagt Martin Hermida. Das Problem ist in der Schweiz noch ausgeprägter als in anderen Ländern. Denn dank grossem Wohlstand und nahezu lückenloser Netzabdeckung werden hierzulande weit mehr mobile Geräte genutzt als in den meisten übrigen Staaten, die von «EU Kids Online» erfasst wurden.
Wie also sollen Eltern unter diesen Umständen das Internetverhalten ihrer Kinder überwachen und steuern? «Technische Mittel wie Filterprogramme reichen nicht aus», meint Daniel Süss. Auch Verbote führen nicht zum Ziel; Kinder sollen vielmehr den Umgang mit den neuen Medien lernen. «Medienkompetenz», so Süss, «ist zu einer Kulturtechnik geworden wie Lesen, Schreiben und Rechnen.»
Medial kompetent sind Kinder aber nicht, wenn sie ein Dutzend Programme beherrschen und möglichst viele Shortcuts kennen. Es geht vielmehr um bewusstes und sozial verantwortungsvolles Handeln online.
Hermida und Süss sind sich einig: Die Schule müsste zumindest einen Teil dieser Ausbildung anbieten. «Da es keine Gesetze und keine Institutionen gibt, die das Internet regulieren, kann nur die Schule eine langfristige Vermittlung von Medienkompetenz garantieren», sagt Martin Hermida.
Das müsse nicht allein Aufgabe der ordentlichen Lehrkräfte sein, ergänzt sein Kollege Süss: Für Themen wie den Umgang mit Datenschutz oder Pornografie im Internet brauche es zweifellos zusätzliche Fachleute – genau wie den Schulpolizisten, der den Kindern richtiges Verhalten im Strassenverkehr beibringt.
Überhaupt ist Umdenken angesagt. Denn seit der Demokratisierung des Wissens durch das Internet sind Eltern und Lehrer nicht mehr die Hüter aller Weisheit. Dank zielsicherem Zugriff aufs Netz sind Kinder und Jugendliche in vielen Belangen oft besser informiert als die ältere Generation.
Lehrer und Eltern müssen demnach nicht stets die Experten sein; im Bereich der modernen Medien sind sie es ohnehin schon lange nicht mehr. Eine offene Gesprächskultur – das ist es, was Hermida und Süss allen Eltern empfehlen, die sich vor den Risiken des Internets fürchten. «Ein Kind kann nichts dafür, wenn es im Netz auf Porno und Gewalt stösst», sagt Martin Hermida. Kinder dürfen deshalb keine Angst davor haben, von den Eltern für «Ausrutscher» bestraft zu werden.
Wer seinem Nachwuchs das riesige Potenzial des World Wide Web nicht vorenthalten will, muss den Gefahren, die im dichten Wald der Wikis und Websites auf Rotkäppchen lauern, in die Augen sehen – und mit den Kindern darüber reden.
Gute Hilfe leistet dabei «Jugend und Medien». Das nationale Programm publiziert einen Leitfaden zur Medienkompetenz für Eltern «und alle, die mit Kids zu tun haben». Mitverfasser ist Daniel Süss. Die 36-seitige Broschüre gibt Antwort auf fast alle Fragen, die sich Eltern zum Umgang mit modernen Medien stellen dürften.
Der Leitfaden basiert unter anderem auf den Erkenntnissen der «JAMES»-Studien. Ein zusätzlicher Flyer – es gibt ihn in 16 Sprachen – verdichtet den Inhalt der Broschüre auf zehn goldene Regeln. Neben altbekannten Ratschlägen wie der Einhaltung von Altersfreigaben und Bildschirmzeiten findet sich hier auch das, worauf Martin Hermida und Daniel Süss stets pochen: Erkläre deinem Kind, dass es ohne Rücksprache keine persönlichen Daten weitergeben darf. Lass dein Kind Internetbekanntschaften nicht ohne erwachsene Begleitung treffen. Sprich mit deinem Kind über Sexualität und Gewalt im Internet. Sprich mit ihm über seine Erfahrungen mit digitalen Medien, und sei ihm vor allem auch ein Vorbild im Umgang damit.
Und warum, fragen sich viele, kontrolliert der Staat das Netz nicht? Warum verpflichtet er Netzprovider nicht zur Zensur? Eine nationale Koordinationsstelle zur Bekämpfung der Internetkriminalität gibt es zwar, sie vermag aber einzig Kinderporno- oder Neonazi-Seiten zu sperren, die hierzulande gehostet sind. Denn es ist ja das Wesen des World Wide Web, nicht reguliert zu sein. Genau dies ist sein Geheimnis, genau dies sein Pozential.
«Im Internet kommt Innovation von den Rändern », sagt Martin Hermida, «da lässt sich rechtlich nichts dagegen machen.» Anbieter können jedoch Verantwortung übernehmen, indem sie die Vermittlung von Medienkompetenz aktiv fördern. Swisscom, so der Forscher, gehe da gewiss den richtigen Weg, «aber der ist noch sehr, sehr lang». Die EU wiederum plane, in ihren Mitgliedstaaten je eine Koordinationsstelle für Internetforschung und Risikoprävention einzurichten, und, meint Hermida, «etwas Vergleichbares braucht es dringend auch in der Schweiz.»