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Studie zur sexuellen Gewalt

«Alles dreht sich um die verletzte Ehre»

Die Historikerin Francisca Loetz hat am Beispiel Zürichs erforscht, wie die Justiz von 1500 bis 1850 mit sexueller Gewalt umging. Das detailreiche Buch, das sie zu diesem Thema geschrieben hat, fördert viel Überraschendes und Befremdliches zutage und widerlegt manche Vorurteile.
David Werner
Plädiert für eine Historisierung des Gewaltbegriffs: Francisca Loetz, Professorin für Allgemeine Geschichte der Neuzeit an der UZH.

Frau Loetz, Sie haben unzählige Gerichtsakten aus mehreren Jahrhunderten studiert. Wie ernst nahm die Zürcher Justiz Klagen wegen sexuellen Übergriffen?

Francisca Loetz: Sehr ernst. Ich habe den Eindruck gewonnen, dass die hiesigen Gerichte sich konsequent um die Klärung der ihnen angezeigten Fälle bemüht haben.

Das erstaunt. Man hätte sich vorstellen können, dass Vergewaltigungen von der Justiz bagatellisiert wurden.

Francisca Loetz: In dem von mir untersuchten Zeitraum war das in Zürich nicht der Fall.

Wie erklären Sie sich dies? Hat es etwas mit der zwinglianischen Sitten- und Prinzipienstrenge zu tun?

Francisca Loetz: Inwiefern in Zürich die zwinglianische Konfession eine spezifische Rolle spielte, kann ich nicht sagen. Dazu müsste man konfessionell und religiös vergleichende Studien anstellen, die derzeit nicht vorliegen. Auf jeden Fall aber waren die Gründe für die konsequente Bestrafung von «Notzucht» teilweise moralisch-religiöser Art. Es gab aber auch einen ganz pragmatischen, sozialpolitischen Grund.

Was für einen Grund?

Francisca Loetz: Frauen, die vergewaltigt wurden, verloren ihre Ehre – und damit ihren Wert auf dem Heiratsmarkt. Sie gerieten in Gefahr, armengenössig zu werden, was bedeutete, dass das Gemeinwesen für ihren Lebensunterhalt aufkommen musste. Die Gerichte versuchten, dem vorzubeugen, indem sie nach Wegen suchten, die Ehre der Frauen wieder herzustellen  – oder zumindest den materiellen Unterhalt der Betroffenen zu sichern, um das jeweilige Almosenamt nicht zu belasten.

Wie unterscheidet sich das Selbstverständnis des vormodernen Gerichtswesens vom heutigen?

Francisca Loetz: Es unterscheidet sich sehr stark, weshalb uns viele Praktiken heute seltsam und fremdartig vorkommen. Pointiert gesagt: Gerichte verstanden sich nicht allein als Ort sozialer Konfliktbewältigung, sondern als Raum der symbolischen Wiederherstellung einer durch Verbrechen verletzten gottgewollten Ordnung.

Inwiefern wurde sexuelle Gewalt als eine Bedrohung dieser Ordnung empfunden?

Francisca Loetz: «Notzucht» wurde als eine Sünde verstanden. Als Sünde gefährdete sie die legitime Ordnung, da sie gegen Gottes Gebote verstiess. Kinder zum Beispiel, die Opfer sexueller Gewalt geworden waren, galten als «moralisch vergiftet», wie es in den Quellen heisst. Sie mussten durch geistliche Begleitung wieder auf den «Pfad der Tugend» geführt werden.

Wie wurden die Täter bestraft?

Francisca Loetz: Die Strafen waren hart. Verurteilte Sexualstraftäter hatten dem Opfer im Rahmen ihrer Vermögensverhältnisse eine Entschädigung zu zahlen, die bei Frauen ungefähr dem Betrag einer Mitgift entsprach. Im Fall einer Schwängerung hatten sie Alimente für das Kind zu zahlen. Kosten für ärztliche Behandlung und Gerichtsgebühren gingen zu ihren Lasten. Ausserdem wurden die Verurteilten aus der Gesellschaft ausgegrenzt und stigmatisiert. Oft hatten sie Wirtshaus-Verbot und durften keine Feste mehr besuchen. Meist verloren sie das aktive Bürgerrecht. Landesverweis oder mehrjährige Freiheitsstrafen waren die Regel.

Wäre es nicht naheliegend, anzunehmen, dass sich die damalige Justiz mit den in aller Regel männlichen Sexualstraftätern solidarisierte – auf Kosten der Opfer?

Francisca Loetz: Dieses Bild entspricht der Sichtweise feministischer Geschichtsschreibung der 1970er- und 1980erjahre. Die Ergebnisse meiner Studie widerlegen für Zürich solche Vorstellungen klar.

Klarer, als Sie selbst gedacht hätten?

Francisca Loetz: Ja. Die Konsequenz, in der die Gerichte im Sinne der Anklage urteilten, hat mich selbst erstaunt. Die Angeklagten wurden fast durchwegs schuldig gesprochen. Sie hatten keine Aussicht auf Begnadigung.

Es fällt auf, dass sexuelle Gewalt vor Gericht immer nur im Hinblick auf die Ehrverletzung verhandelt wurde. Die Verletzung der körperlichen und psychischen Integrität scheint keine Kategorie gewesen zu sein. Hatte man damals dafür kein Sensorium?

Francisca Loetz: Wir sind es heute gewohnt, die Würde des Menschen an seiner physischen und psychischen Integrität festzumachen. In meinem Untersuchungszeitraum machte man sie an dem fest, was als Ehre galt. Da Geschlechtsverkehr offiziell allein im Rahmen der Ehe und allein zum Zweck der Fortpflanzung dienen sollte, war jegliche andere Form der Sexualität «unzüchtig», um wieder in Quellensprache zu reden. Ehre, das bedeutete für eine unverheiratete Frau: Erhalt der Jungfräulichkeit. Für eine verheiratete Frau bedeutete es: Fruchtbarkeit und keine aussereheliche Sexualität. Entsprechend ging es in den Gerichtsprozessen, die mit sexuellen Übergriffen zu tun hatten, immer um das Hymen bzw. die Folgen für die Gebärfähigkeit der Frau. Das war ein eindeutiges Kriterium für die Urteilsfindung. Andere körperliche Spuren wurden nicht erfragt und nicht beschrieben und entsprechend für das Urteil auch nicht berücksichtigt. Sie waren juristisch irrelevant. Das muss aber nicht bedeuten, dass Folgen sexueller Gewalt, die wir heute als posttraumatische Kennzeichen betrachten würden, nicht registriert worden wären.

Der Umgang mit sexueller Gewalt blieb an Zürcher Gerichten über die Jahrhunderte hinweg bemerkenswert konstant. Im Bild: Ausschnitt einer Planvedute der Stadt Zürich von Georg Braun und Franz Hogenberg, 1581.

Wie hat sich der Umgang mit sexueller Gewalt in Zürich über die Jahrhunderte hinweg verändert?

Francisca Loetz: Mich hat zu Beginn meiner Studie genau diese Frage nach dem historischen Wandel besonders interessiert. Umso grösser war meine Überraschung, als ich dann feststellte, dass in der von mir untersuchten Zeitspanne kaum Veränderungen zu beobachten sind. Immer drehte sich alles um die verletzte Ehre. Selbst in der sogenannten Sattelzeit um 1800, in der – so das historiographische Konzept – die Gesellschaft tiefe Umbrüche erfuhr, konnte ich keine wesentlichen Veränderungen in der Behandlung und gerichtlichen Verurteilung der Täter finden. Was sich änderte, war das Gerichtssystem, aber kaum die gesellschaftlichen Wertvorstellungen, auf welchen die Justiz fusste. Psychische und physische Integrität war noch im beginnenden 19. Jahrhundert kein Thema in den Gerichten. Der Wandel hin zu der uns vertrauten Perspektive auf sexualisierte Gewalt fand erst im 20. Jahrhundert und teilweise erst in allerjüngster Zeit statt.

Manche der damaligen Urteile Zürcher Gerichte sind aus heutiger Sicht ziemlich schockierend. So kam es vor, dass Vergewaltiger dazu verurteilt wurden, ihre Opfer zu heiraten.

Francisca Loetz: Auch das hat mit der überragenden Bedeutung der verletzten «Ehre» im Zusammenhang mit sexuellen Übergriffen zu tun. Eine Eheschliessung zwischen Täter und Opfer legitimierte die «Unzucht» im Nachhinein. Die Eheschliessung war eine Möglichkeit, eine durch die Vergewaltigung ehrlos und auf dem Heiratsmarkt chancenlos gewordene Frau sozial und materiell abzusichern. Der Ehemann hatte – zumindest theoretisch – die Pflicht, einen Teil zu einem gemeinsamen Einkommen zu leisten.

Wie hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Opfer sexueller Gewalt vor Gericht Klage einreichten?  

Francisca Loetz: Es muss die Frauen viel Überwindung gekostet haben – sie mussten ja öffentlich die den Verlust ihrer Ehre eingestehen. Motivierend für einen Gang vor Gericht dürfte die Notwendigkeit und die Chance gewirkt haben, die eigene Ehre wieder herzustellen.

Wie verbreitet war sexuelle Gewalt im Zürich der frühen Neuzeit?

Francisca Loetz: Ich kann darüber keine genaueren Aussagen machen, schliesslich kenne ich ja nur die Fälle, die in den Gerichtsakten dokumentiert sind. Wie gross die Dunkelziffer war, darüber kann man nur spekulieren.

Wie offen konnte vor Gericht über sexuelle Gewalt gesprochen werden?

Francisca Loetz: Das Gericht erwartete sehr detaillierte Auskünfte über das Vorgefallene. Die Befragten, auch Kinder, mussten in der Lage sein, genau zu schildern, wann was wo wie oft auf welche Weise geschehen war. Dazu waren sie durchaus in der Lage. Ich habe keinen einzigen Fall gefunden, in dem das Opfer schwieg oder sich nicht verständlich machen konnte. Viele heute lebenden Menschen wären überrascht, wenn sie wüssten, wie offen in früheren Jahrhunderten vor Gericht über sexuelle Gewalt geredet wurde.

Nicht für alle Frauen galten dieselben Normen, das Gesetz verhielt sich anders, je nachdem, ob es sich um eine züchtige oder unzüchtige, eine ehrbare oder käufliche Frau handelte. Stimmt es, dass Prostituierte Gewalttäter erst gar nicht einklagen konnten?

Francisca Loetz: Notzucht – wie früher Vergewaltigungen bezeichnet wurden – wurde als Raub der Ehre definiert. Prostituierte oder unzüchtige Frauen mit ausserehlichen Beziehungen hatten keine Ehre mehr, deren Verlust sie hätten einklagen können. Aber die gerichtliche Praxis war hier nicht immer gleich. Einiges deutet darauf hin, dass bei Prostitution die Grenzen zwischen legitimer und tolerierter Gewaltanwendung fliessend waren. Ich bin auf einen Fall aus dem 17. Jahrhundert gestossen, in dem ein Zeuge vom Gericht belangt wird, weil er einem Mädchen, das zu Hilfe schrie, nicht beistand. Vom Gericht befragt, warum er keine Hilfe geleistet habe, gibt er zur Antwort, er habe angenommen, das Opfer sei eine Prostituierte, weshalb er keinen Grund zum Einschreiten gesehen habe. Das Gericht akzeptierte diese Erklärung nicht und verurteilte ihn. Dieses Beispiel lässt vermuten, dass Notzüchtigung von Prostituierten in früheren Jahrhunderten zwar als tolerabel dargestellt werden konnte, gerichtlich aber nicht als zwingend als legitim beurteilt werden musste.

Haben Sie in den Gerichtsakten auch Fälle homosexueller Gewalt gefunden?

Francisca Loetz: Nur ganz vereinzelt. Um in diesem Feld mehr zu erfahren, müsste man noch weitere Bestände von Gerichtsakten auswerten, die ich wegen des erforderlichen Arbeitsaufwands nicht untersuchen konnte.

Sie stützen sich in Ihrer Studie zur sexuellen Gewalt ausschliesslich auf Gerichtsakten. Resultiert daraus nicht ein selektives Bild der Realität?

Francisca Loetz: Wir haben als Historikerinnen und Historiker gar keine andere Wahl, als selektiv vorzugehen. Die Vergangenheit ist ja nicht vollständig in Originalton und in 3-D-Version überliefert. Deshalb müssen wir die Grenzen unseres Materials immer mitreflektieren. Ich nehme in meinem Buch nicht für mich in Anspruch, die gesellschaftliche Wirklichkeit Zürichs in ihrer Gesamtheit konstruieren zu können. Ich habe nur eine Spitze des Eisbergs erfasst. Ich weise immer wieder darauf hin, dass Gerichtsakten nur das dokumentieren, was das Gericht und die Befragten im Hinblick auf das Rechtsverfahren für relevant erachten.

Warum haben Sie für Ihre Fallstudie ausgerechnet Zürich ausgewählt?

Francisca Loetz: Ganz einfach: Die Archive in Zürich sind wahre Goldgruben, kaum irgendwo sonst sind sie so gut erhalten, und kaum irgendwo sonst wurden sie so kontinuierlich gepflegt. Das hängt einerseits mit Selbstverständnis und Selbstbewusstsein Zürichs als selbständigem Staatswesen zusammen. Und zweitens hat Zürich keine Zerstörungen erlebt.

Selbstbewusstes Staatswesen: Ausschnitt einer Karte der Stadtrepublik Zürich aus dem Jahr 1698.

Sie wollen Ihr Buch nicht nur als ein Stück Lokalgeschichte behandelt wissen, sondern auch als exemplarisches Stück historischer Gewaltforschung. Kann man die am Falle von Zürich gewonnen Erkenntnisse einfach verallgemeinern?

Francisca Loetz: Darum geht es mir nicht. Vielmehr versuchte ich anhand des Falls Zürich konzeptionelle Fragestellungen zu entwickeln, die man dann auf andere Regionalstudien übertragen könnte. Mit andern Worten: Ich nutze das Beispiel Zürich, um innerhalb meiner Disziplin generische Perspektiven zur Diskussion zu stellen.

Haben Sie im Hinblick auf ihr Thema Vergleiche zwischen Zürich und anderen Städten und Regionen angestellt?

Francisca Loetz: Soweit dies aufgrund der Forschungslage möglich war, habe ich dies versucht. Ich stiess dabei auf viele Ähnlichkeiten: Das Argument zum Beispiel, dass sich eine Person, die sich bei einem Übergriff nicht wehrt, mitschuldig macht, war früher weit verbreitet.

Sie schreiben im Vorwort Ihres Buches, die Erforschung des Themas Gewalt stehe noch ganz am Anfang. Wie das? Themen wie Krieg, Revolutionen oder Genozid stehen doch ganz oben auf der Agenda der Geschichtsschreibung.

Francisca Loetz: Bislang konzentrierte sich die Geschichtsschreibung der Zeit von 1500 bis 1850 vor allem auf Gewaltsamkeiten mit tödlichem Ausgang. Die Geschichte kennt aber auch andere Formen der Gewalt. Neben sexueller Gewalt etwa auch verbale Gewalt. Und die frühe Neuzeit kennt, um ein weiteres Beispiel zu nennen, auch die Gewalt gegen Gott – im Sinne von Gotteslästerung.

Welchen Gewinn kann die Geschichtswissenschaft aus einem breiter gefassten Gewaltbegriff ziehen?

Francisca Loetz: Sie sensibilisiert sich auf diese Weise dafür, dass Gewalt immer auch ein soziales Handeln ist. Und dass geschichtlich sehr variabel ist, welche Handlungen als gewaltsam wahrgenommen werden und welche nicht.

Wird Gewalt individuell nicht auch dort erfahren und erlitten, wo sie gesellschaftlich nicht als solche erkannt und deklariert wird?

Francisca Loetz: Sicher. Doch schon die Sprache, in der das Erleben und Erleiden von Gewalt verbalisiert wird, ist historisch bedingt. Gewalt wird in jeder Gesellschaft und in jeder Zeit unterschiedlich ausgedrückt, bewältigt, verdrängt, verschwiegen oder an den Tag gebracht. Insofern ist sie eine historisch wandelbare Grösse. In den frühen 1990er Jahren zum Beispiel diskutierte man noch, ob erzwungener Geschlechtsverkehr zwischen Eheleuten eine Vergewaltigung ist. Heute besteht darüber kein Zweifel mehr. Wir müssen immer aufs Neue nach den Grenzen dessen fragen, was eine Gesellschaft für tragbar und zuträglich hält.

Läuft die Historisierung des Gewaltbegriffs, für die Sie plädieren, nicht auf eine Relativierung von Gewalt hinaus?

Francisca Loetz: Auf keinen Fall. Mir geht es nicht um Relativierung, sondern um historische Kontextualisierung. Also darum, zu fragen, was ein Verhalten in einer Gesellschaft zu Gewalt macht und wie die Gesellschaft mit dem, was sie als Gewalt empfindet, umgeht. Relativierung hiesse für mich, zwischen schlimmer und weniger schlimmer Gewalt zu unterscheiden. Damit würde man eine Art Betroffenheitsperspektive einnehmen. Mit wissenschaftlicher Arbeit hätte das nichts mehr zu tun.

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