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Hunderttausende Verdingkinder gab es bis in die 1970er Jahre. Es ist ein düsteres Kapitel Schweizer Sozialgeschichte, das einer breiteren Öffentlichkeit lange Zeit kaum bekannt war. Auch die Forschung zum Verdingkinderwesen, die amtlich als Teilbereich der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen galten, wurde bisher stiefmütterlich behandelt.
Mit ihrem Dissertationsprojekt betrete sie deshalb Neuland, sagt Doktorandin Gianna Weber. Die Historikerin untersucht, welche Institutionen in den einzelnen Kantonen für die Versorgung von Verdingkindern zuständig waren und auf welche juristischen Bestimmungen sie sich stützten. Zudem analysiert Gianna Weber die Armendiskurse des 20. Jahrhunderts, die Aufschlüsse über die gesellschaftlichen Wertvorstellungen und die daraus resultierenden Fürsorge- und Versorgungspraktiken der Schweiz geben.
Mit ihrem Projekt möchte Weber dem Schicksal der Opfer nachgehen und diese von ihrer bisher oft individuell getragenen «Beweislast» entheben. Das bedeutet für die Historikerin Archivarbeit. Nur: Der Zugang zu den behördlichen Daten erweist sich als schwierig. Verdingkinder wurden nicht zentral registriert, die historischen Fürsorge- und Vormundschaftsakten muss die Doktorandin zuerst auf Gemeindeebene nach relevanten Fällen durchforsten. Zudem gibt es oft Probleme mit dem Datenschutz. Die Entscheidung über die Herausgabe der Akten liegt bei den Archiven.
«Eine Bewilligung ist oft Ermessenssache. In Zürich beispielsweise wurden ein paar meiner Gesuche teilweise oder ganz abgelehnt, obwohl ich die übliche Anonymisierung der Daten angeboten habe», sagt die Doktorandin. Da es sich um hochsensible Personendossiers von zum Teil noch lebenden Menschen handelt, welche zusätzlich Daten zu anderen Personen – beispielsweise der Geschwister von Betroffenen – enthalten, gestaltet sich eine Interessenabwägung zwischen Datenschutz und historischer Aufarbeitung als schwierig. Aus diesem Grund hat Gianna Weber mit persönlich ausgestellten Einwilligungen von ehemaligen Verdingkindern Gesuche an die Zürcher Stadt- und Staatsarchive gestellt.
Das «Verdingen» konnte bereits im Mittelalter nachgewiesen werden. Arme Familien schickten ihre Kinder, die sie selbst nicht mehr ernähren konnten, zur Arbeit auf Bauernhöfe. Nach und nach wurden Waisenkinder und Kinder armer Eltern auch von den öffentlichen Fürsorge- und Vormundschaftsbehörden zwangsverdingt. Hilfsbedürftige Familien wurden gewöhnlich von der zuständigen Armenpflege «aufgelöst». Die Pflegeeltern erhielten ein monatliches Kostgeld, eine Entschädigung, die zum Teil von den leiblichen Eltern, meist jedoch von den Behörden ausbezahlt wurde.
Noch bis ins 20. Jahrhundert wurden Kinder auf Schweizer Dorfplätzen öffentlich versteigert, sprich jenen Pflegeeltern zugeteilt, die am wenigsten Kostgeld verlangten. Auch private Institutionen wie etwa die Stiftung «Pro Juventute» waren in die Vermittlung von Verdingkindern involviert. Die leiblichen Eltern hingegen verloren im Laufe des 20. Jahrhunderts immer mehr Mitsprachemöglichkeiten bezüglich der amtlichen Versorgung ihrer Kinder. Die Behörden legten nun fest, welche Kinder für welchen Betrag wohin fremdplatziert wurden.
Doch mit welchem Recht gingen die Beamten bei einer Zwangsversorgung vor? Mit der Einführung des Zivilgesetzbuchs von 1912 wurden gewisse Formen sozialen Verhaltens diskriminiert. Eltern, denen Begriffe, wie «arbeitsscheu» oder «liederlich» zugeschrieben wurden, drohte gemäss Art. 370 ZGB die eigene Bevormundung, damit verbunden der Entzug des Sorgerechts oder die Einweisung in Zwangsarbeitsanstalten. «Jede hilfsbedürftige Familie stand bei den Behörden unter Generalverdacht», sagt Gianna Weber.
Doch nicht alle Verdingkinder wurden schlecht behandelt: «Es gab auch Pflegeverhältnisse, die sehr gut funktionierten», sagt Weber. Auf der anderen Seite wurden Missbrauchsfälle kaum geahndet. Die Abgelegenheit der Höfe, die Arbeitsüberlastung der Beamten sowie die schwache soziale Stellung der Verdingkinder trugen dazu bei, dass Misshandlungen oft unbemerkt oder ungemeldet blieben. Wurde doch einmal Meldung erstattet, wurden die Täter von den Behörden selten zur Rechenschaft gezogen.
Die Betroffenen selbst kennen ihre eigenen Akten meist nicht oder wissen nicht, wo sie abgelegt sind. Die Doktorandin hat ehemalige Verdingkinder deshalb dabei unterstützt, Anträge auf Einsicht in ihre eigenen Akten zu stellen. «Die Archive zeigen sich diesbezüglich sehr hilfsbereit», so Weber. «Für die Betroffenen ist die Konfrontation mit den Dokumenten allerdings sehr aufwühlend. Oft geben ihnen die Akten bisher unbekannte Informationen zu ihrer eigenen Vergangenheit preis oder erinnern an bereits Verdrängtes.»
Gianna Weber erzählt mit viel Begeisterung von ihrer Arbeit mit Personendossiers, die bisher von niemandem ausserhalb des Verwaltungsapparats eingesehen worden sind. «Die Erforschung subalterner Gesellschaftsschichten gefällt mir viel besser als beispielsweise die Beschreibung sogenannt ‚grosser’ Persönlichkeiten», sagt sie. Was sie an ihrem Forschungsfeld besonders fasziniert ist, dass viele Betroffene noch leben.