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Wochenlang suchten die Bergungsschiffe im Sommer 1968 vergeblich nach dem amerikanischen U-Boot USS Scorpion, das mitten im Atlantik verschollen war. Erst als ein Marineoffizier auf die Idee kam, das Boot mit einer ungewöhnlichen Methode aufzuspüren, gelang der Durchbruch.
John Craven liess Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen anhand der bisherigen Informationen unabhängig voneinander schätzen, wo sich das Schiff befinden könnte. Der Mittelwert aller Angaben lag weniger als 100 Meter neben der Stelle, wo das U-Boot kurz darauf tatsächlich gefunden wurde. Craven machte sich ein Phänomen zunutze, das in der Soziologie als «Weisheit der Vielen» bezeichnet wird.
Weise sind die Vielen allerdings nur unter zwei Voraussetzungen: Die Gruppe, welche die Schätzungen abgibt, muss möglichst heterogen zusammengesetzt sein, damit sie nicht von Menschen dominiert wird, die ähnlich denken. Und die Schätzungen müssen unabhängig voneinander abgegeben werden. Werden die Teilnehmer durch andere beeinflusst, wird die Weisheit der Vielen unterminiert, wie Heiko Rauhut, Assistent am Institut für Soziologie der Universität Zürich und Privatdozent an der ETH Zürich, zusammen mit Forschern der ETH Zürich nachwies.
Die Forscher stellten im Versuchslabor 144 Probanden sechs verschiedene Wissensfragen, die sie fünfmal hintereinander beantworten mussten. Eine erste Gruppe bekam nach jeder Runde den Mittelwert der abgegebenen Zahlen mitgeteilt, eine zweite erhielt die Verteilung aller Werte angezeigt, während die dritte Kontrollgruppe ihre Schätzungen abgab, ohne zu wissen, wie die anderen geantwortet hatten. Die Angaben der drei Gruppen zeigen: Menschen können in die Irre geführt werden, wenn sie erfahren, was andere denken.
Die soziale Beeinflussung führte im Experiment zu einer Annäherung der Schätzwerte. Es bildete sich ein Konsens, der den Teilnehmern mehr Vertrauen in eigene Antworten gab. Dieses Vertrauen war jedoch trügerisch: Der Durchschnitt der beeinflussten Antworten lag nämlich nicht näher beim wahren Wert als das Mittel der unbeeinflussten Schätzwerte. Das stärkere Vertrauen in die eigenen Angaben war also nicht gerechtfertigt.
Die Wissenschaftler liessen die Probanden Werte schätzen, von denen sie eine ungefähre Ahnung haben, wie gross sie sein könnten. Sie fragten, wie gross die Bevölkerungsdichte in der Schweiz ist, wie viele Morde hierzulande vorkommen oder wie lang die Grenze zwischen Ita lien und der Schweiz ist. «Es waren alles Fragen, zu denen es eine objektiv richtige Antwort gibt», hält Rauhut fest. «Die Vielen sind nämlich nur bei solchen Fragen wirklich weise. Bei Meinungs-oder Wertefragen kann man den Mechanismus nicht anwenden.»
Damit sich die Versuchspersonen bei den Schätzungen anstrengen, erhielten sie für jede Antwort einen Geldbetrag ausbezahlt. Dieser war umso höher, je näher die Antwort beim richtigen Wert lag. Betrug die Abweichung weniger als 10 Prozent, zahlten die Forscher 1.40 Franken; lagen die Antworten um mehr als 40 Prozent daneben, gingen die Probanden leer aus. «Die Erfahrung zeigt, dass bereits kleine Geldbeträge als Motivationsquelle ausreichen», erklärt Rauhut.
Wegen seiner starken Wirkung will der Einsatz des Geldes jedoch sorgfältig überlegt sein. So wollten die Forscher beispielsweise vermeiden, dass die Probanden strategisch spielen – etwa indem sie mit gezielten Falschantworten die anderen in die Irre lenken. Trotzdem verhielten sich einige Teilnehmer anders als erwartet. Sie gaben Schätzwerte über einen relativ grossen Bereich hinweg an. Damit wollten sie das Risiko minimieren, am Ende mit leeren Händen dazustehen.
Geld kann in solchen Experimenten nicht nur als Motivationshilfe eingesetzt werden, sondern auch als Mittel, um das Verhalten von Menschen zu studieren. So untersuchte Rauhut mit seinen Kollegen in einem anderen Experiment, inwieweit es positiv ist, dass wir das Verhalten von anderen Menschen nicht genau kennen.
«Wir wissen kaum, wie viele schwarzfahren oder Steuern hinterziehen», erklärt er. «Einzig wenn wir in eine Kontrolle geraten, sehen wir ungefähr, wie viele Schwarzfahrer unterwegs sind.» Dass dieses Nichtwissen eine präventive Wirkung hat, konnte Rauhut zusammen mit Andreas Diekmann und Wojtek Przepiorka von der ETH bestätigen.
«Für eine Gesellschaft ist es offenbar besser, wenn Regelverstösse nicht völlig transparent gemacht werden», schliesst Rauhut. «Wenn wir wissen, wie häufig geschummelt wird, ermuntert uns das eher, ebenfalls zu schummeln.»
Genau solche Fragen nach dem menschlichen Verhalten faszinieren Rauhut. «Mich interessiert die Rolle von sozialen Normen in einer Gesellschaft», erklärt er. «Ich möchte zeigen, welche Anreizsysteme längerfristig zu einem kooperativen Verhalten beitragen.»