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Wird ein Kind viel zu früh geboren oder ist es von Geburt an schwer krank, bringt dies für die Eltern und auch die beteiligten Ärzte und Pflegepersonen grosse Unsicherheit mit sich. Schwierige Entscheidungen sind zu treffen. Ist es richtig, mit allen Mitteln um das Leben eines Kindes zu kämpfen? Oder ist ihm eine Therapie nicht (mehr) zuzumuten?
Besonders kritisch ist die Behandlung von Kindern, die an der Grenze zur Lebensfähigkeit zur Welt kommen (ca. 22.-26. Schwangerschaftswoche). Winzige Frühgeborene sind viel schwieriger zu untersuchen als termingeborene Kinder. Und die Folgen einer medizinischen Massnahme lassen sich nur schwer abschätzen, weil die kleinen Patienten oft sehr unterschiedlich darauf reagieren.
Ihre Überlebenschancen sind dank heutiger Behandlungsmöglichkeiten viel besser als noch vor einigen Jahrzehnten. Doch die intensiven Behandlungen gehen nicht spurlos an den Kindern vorbei. Viele von ihnen tragen schwere körperliche und geistige Schädigungen davon.
Angesichts dieser schwierigen Fragen behilft sich die Praxis mit unterschiedlichen Lösungsmodellen. Ein Ansatz sind allgemein formulierte Richtlinien von medizinisch-ethischen Fachgremien wie zum Beispiel die Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie (SGN). Diese legen fest, ob und wie Neu- und Frühgeborene behandelt werden sollen, und dienen den behandelnden Ärztinnen und Ärzten quasi als Wegweiser.
Einen gänzlich anderen Lösungsansatz verfolgen manche Schweizer Spitäler, die für schwierige Situationen so genannte Entscheidungsfindungsprozesse definiert haben. Diese Prozesse beinhalten keine Behandlungsempfehlungen, sondern legen fest, welche Personen zu welchem Zeitpunkt miteinander welche Fragen besprechen sollen. Durch klar geregelte Abläufe soll eine ausgewogene, koordinierte Entscheidungsfindung gewährleistet werden. Ein Kernanliegen besteht dabei darin, den meist beträchtlichen Entscheidungsdruck abzufedern und bestmöglich auf alle Beteiligten (Eltern, Ärzte, andere Gremien) zu verteilen.
In der Praxis sind solche Empfehlungen und Prozesse hilfreich. Aber sind sie mit den rechtlichen Vorgaben auch kompatibel? In den SGN-Richtlinien findet sich beispielsweise die Empfehlung, bei Frühgeborenen, die vor der 24. Schwangerschaftswoche zur Welt gekommen sind, in der Regel auf lebenserhaltende Massnahmen zu verzichten. «Im Hinblick auf die Rechtsordnung sind solche abstrakt festgelegten Behandlungsgrenzen zumindest nicht unproblematisch», meint die Doktorandin Christina Schlatter. Gemäss dem Schweizerischen Zivilgesetzbuch beginnt die Persönlichkeit mit dem Leben nach der vollendeten Geburt, und zwar grundsätzlich unabhängig davon, wann diese stattfindet. Das bedeutet, dass auch ein Frühgeborenes über eine Persönlichkeit im Rechtssinn und damit über einen rechtlich geschützten Anspruch auf Schutz seines Lebens verfügt.
Schlatter arbeitet in ihrer Dissertation, die vom Forschungskredit der Universität Zürich unterstützt wird, die rechtlichen Grundlagen zu Behandlungsentscheiden in der Neonatologie auf. Dabei interessiert sie auch, inwieweit das Vorgehen in der Praxis mit der Rechtsordnung übereinstimmt und wo Abweichungen bestehen. Die Doktorandin untersucht zentrale Fragen: Welche Kriterien müssen bei einem Entscheid berücksichtigt werden? Und wer darf aus rechtlicher Sicht entscheiden, ob und wie ein Kind therapiert wird?
Ärzte und Ärztinnen sind grundsätzlich darauf angewiesen, dass die Eltern als gesetzliche Vertreter in eine Behandlung einwilligen. Denn die Eltern haben das Recht zu bestimmen, was für ihr Kind das Beste ist. Sie sind bei ihren Entscheidungen einzig verpflichtet, das Kindeswohl zu berücksichtigen.
Das «Kindeswohl» ist ein unbestimmter rechtlicher Begriff. In vielen Belangen kann er von den Eltern definiert werden. Sie können zum Beispiel weitgehend frei entscheiden, wie sie ihr Kind erziehen wollen. Im medizinischen Bereich ist der Spielraum der Eltern aber relativ klein. Denn da wird das Kindeswohl primär anhand objektiver Kriterien beurteilt: Ist eine Behandlung medizinisch notwendig? Entspricht die Behandlung einem standardisierten, wissenschaftlich erprobten Verfahren? Dient die Therapie dem Zweck, das Kind zu heilen?
Sind die Eltern gegen eine Behandlung, die medizinisch angezeigt oder sogar lebensnotwendig ist, kann (und muss) der Arzt im Notfall auch gegen den Willen der Eltern handeln. Denn er hat eine Schutzpflicht gegenüber dem Kind.
Wie ein krankes Früh- oder Neugeborenes behandelt wird, hat lebenslange Folgen – sowohl fürs Kind, als auch für sein Umfeld. Deshalb sind bei einem Entscheid auch weitere Aspekte abzuwägen: Wie wird sich eine allfällige Behinderung auf das psychische Wohl des Kindes auswirken? Welche Zukunftsperspektiven eröffnen sich ihm? Wie ist es um die Belastbarkeit der Eltern bestellt?
Schlatter setzt sich bei ihrer Arbeit auch intensiv mit medizin-ethischer Literatur auseinander. «Werturteile möchte ich aber keine abgeben», meint sie. «Die Frage nach dem ‚richtigen‘ Vorgehen kann und soll meine Arbeit nicht beantworten. Es geht mir darum, die aktuelle Rechtslage darzustellen sowie bestehende Widersprüche und einen allfälligen Regelungsbedarf aufzuzeigen.»